Julius-Leber-Brücke Teil 7
Anne steht vor dem weit geöffneten Kleiderschrank, ordentlich aufgehängte Blusen und Röcke vor sich. Sogar ihre Hosen hat ihre Mutter aufgehängt, stellt Anne mit leichter Verwunderung fest. Sie denkt an ihren eigenen Schrank und das Chaos darin. Sie hat insgesamt vielleicht fünf Kleiderbügel und nie einen Gedanken daran verschwendet, ihre Hosen auf Bügeln aufzubewahren. Kurz überlegt sie, ob sie ein ordentlicherer Mensch geworden wäre, wenn ihre Mutter nicht gegangen wäre. Ob sie ihr gezeigt hätte, wie man seine Kleidung aufbügelt und dann, mit Bundfalten versehen, aufhängt. Sie schüttelt den Kopf, lässt sich auf ihre Knie sinken und sucht den Boden des Schrankes ab. Wo sonst würde man Schuhkartons abstellen. Aber auf dem Boden des Schrankes sind Stoffkisten, in denen ihre Mutter ihre Unterwäsche und Strumpfhosen aufbewahrt hat. Anne zieht sie heraus, um zu sehen, ob vielleicht dahinter noch etwas steht. Nichts. Sie zieht die Oberteile aus den Fächern, nimmt alle Kleider von der Stange und wirft sie aufs Bett. Hinter ihr stapeln sich die Anziehsachen und Anne beschließt, sie gleich in die großen, blauen Säcke zu verfrachten, bevor sie sonst die Arbeit zweimal erledigen muss. Nach einer halben Stunde sitzt Anne zwischen fünf prall gefüllten Säcken vor einem völlig leeren Schrank. Ratlos. Ob Lulu sich geirrt hat? Einen anderen Schrank gibt es nicht und Anne hat ihn komplett geleert. Oder war das ein böser Scherz? Aber das würde Lulu dann sicher nicht machen.
Anne beschließt zu ihr zu gehen und sie einfach zu fragen.
Sie steht auf, nimmt sich den Wohnungsschlüssel von der Kommode und wirft die Tür hinter sich zu. Sie läuft mit schnellen Schritten den Gang hinunter, muss sich zusammennehmen, nicht einfach loszurennen und bleibt dann vor dem Fahrstuhl stehen. Sie weiß überhaupt nicht wo Lulu wohnt. Sie hat ihr nie ihre Zimmernummer genannt. Also fährt Anne hinunter an den Empfang und trifft dort auf einen jungen Mann, den sie zuvor noch nicht gesehen hat.
„Ich möchte gerne zu Lulu, ähm Luise.“, sagt Anne und merkt wie seltsam sich das anhören muss. Sie setzt noch einmal an.
„Hallo. Ich bin Anne Borkowski, meine Mutter ist vergangene Woche verstorben und ich räume gerade ihre Wohnung aus. Eine Freundin von ihr, die auch hier wohnt, hat mir angeboten, behilflich zu sein und ich weiß leider nicht, wo ich sie finden kann. Könnten Sie mir weiterhelfen? Bitte.“
Der Mann lächelt sie an, ein bisschen weniger verwirrt.
„Mein Beileid zu Ihrem Verlust, ihre Mutter war eine sehr nette Frau, sie wird uns hier allen sehr fehlen.“, antwortet der Mann und Anne muss sich zusammennehmen, um ihm nicht ins Wort zu fallen, nickt nur. Murmelt etwas, das weder sie noch der Mann versteht.
„Sie meinen sicher Frau Blumbach. Sie und ihre Mutter haben viel Zeit miteinander verbracht. Sie wohnt direkt über der Wohnung ihrer Mutter, genau die gleiche Tür nur ein Stockwerk obendrüber.“
„Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.“, beeilt sich Anne zu sagen und wendet sich ab. Sie geht zur Treppe, nimmt immer zwei Stufen auf einmal und zieht sich mit dem Arm zusätzlich am Geländer hoch. Vor Lulus Tür hält sie kurz inne und atmet zweimal tief durch. Ihr Herz schlägt von Innen gegen ihren Brustkorb und sie merkt, dass sich trotz der Kälte zwei nasse Flecken unter ihren Achseln gebildet haben. Sie klopft an die Tür und klingelt zur Sicherheit noch einmal. Wer weiß, vielleicht hört Lulu nicht mehr gut.
„Ich bin nicht taub, meine Liebe, nur langsam. So schnell komm ich nicht mehr hoch, wenn ich mich mal hingesetzt habe.“, sagt Lulu zur Begrüßung als sie ihr die Tür öffnet.
Lulu ist bereits ausgehfertig geschminkt und im Haar trägt sie eine große Spange, mit einer roten Hibiskusblüte darauf. Aber sie hat noch ihren Morgenmantel an, ein seidiger, bodenlanger Mantel mit breiten Ärmeln. Er ist wunderschön, stellt Anne fest und wünscht sofort, er würde ihr gehören. Sie kann sich schon bei sich zu Hause auf dem Bett sehen, ein Bein über das andere gelegt, ein Buch in der Hand, der seidige Mantel… Sie muss sich konzentrieren.
„Entschuldige, ich wollte nicht hetzen.“
„Doch, sicher wolltest du das. Ist aber nicht schlimm. Ich war früher auch so. Nichts konnte schnell genug gehen. Im Kopf hat sich da nichts geändert bei mir, der Körper kommt nur nicht mehr hinterher. Da kann man dann versuchen, sich dagegen zu wehren, oder man übt sich in Geduld. Na, aber das war eben noch nie mein Ding.“, lacht Lulu und winkt Anne in die Wohnung.
Sobald sie die Wohnung betritt, beruhigt Anne sich unweigerlich, weil sie das Gefühl hat, in ein phantastisches Paralleluniversum einzutreten. Andere Leute hätten Lulu vielleicht als Messi bezeichnet, und damit hätten sie vermutlich auch nicht ganz Unrecht gehabt. Aber die Wohnung von Lulu war an keinem Fleckchen unordentlich oder gar dreckig, sie war einfach nur sehr voll. Als wäre Lulu aus einem verwunschenen Schloss in diese Drei-Zimmer-Wohnung umgesiedelt worden und hätte sich von nichts trennen können. An den Wänden ist kaum mehr das Weiß der Tapete zu erkennen, denn bis unter die Decke hängt ein Gemälde neben und über dem anderen. Manche in Rahmen, und andere wieder nicht. Ein Durcheinander, das herrlich harmonisch über Anne kommt und ihren Herzschlag sofort beruhig.
„Setz dich, meine Liebe, setz dich, ich hole dir eine Tasse Tee und bin gleich wieder da. Das hier, das bin übrigens ich, als ich vier Jahre alt war. Mit meinen Eltern. In Öl. Das ist noch was anderes als diese Fotos, die sich die Leute in der Drogerie ausdrucken, wo sie immer alle roten Augen drauf haben.“, sagt Lulu und läuft in die Küche.
„Die roten Augen werden mittlerweile schon von den Kameras weggemacht.“, ruft Anne ihr hinterher, während sie zu dem Gemälde geht, auf das Lulu gezeigt hat. „Ich weiß nicht wie das geht, aber es funktioniert. So schlimm sehen die Bilder also nicht mehr aus.“
„Na, das sind doch gute Nachrichten, denke ich.“, antwortet Lulu und hält Anne eine Tasse mit Tee entgegen. „Mein Vater hieß Hans und meine Mutter Gerda. Ich glaube, mittlerweile sind diese Namen wieder in Mode gekommen, aber für mich sind sie alt. Weil es die Namen meiner Eltern sind, nehme ich an. Maria, ist das für dich auch ein Name für alte Leute?“
Anne sieht Lulu ein wenig verwirrt an. Sie muss sich erst wieder an diese seltsame Frau gewöhnen.
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, wenn ich ehrlich bin, aber ich schätze, der Name ist für mich eh gestorben.“ Lulu nickt traurig und erst als Anne ihren Blick sieht, wird ihr bewusst, wie taktlos das von ihr war. „Entschuldige Lulu, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ihr beide euch nah wart. Wenn ich über meine Mutter rede, habe ich mir wohl einen harten Tonfall zugelegt, über die Jahre. Als würde es dann weniger wehtun, weißt du.“
Lulu nickt wieder.
„Ist gut, Liebes, ich verstehe schon. Setz dich.“
Anne setzt sich auf eine schmale Chaiselongue, die mit bordeauxrotem Samt bezogen ist. Lulu setzt sich auf einen Hocker mit geschwungenen Füßen. Lulu sieht Anne mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartet darauf, dass Anne anfängt zu sprechen. Anne, die es so eilig hatte hier her zu kommen, weil der Schuhkarton ihr auf der Seele gebrannt hat, würde nun nichts lieber als einfach zwei Stunden bei Lulu in der Wohnung sitzen und sie über ihre Kindheit und ihre Leben ausfragen. So tun, als gäbe es die Wohnung direkt unter ihnen gar nicht und sie würde einfach eine alte Bekannte nach langer Zeit wieder besuchen.
„Du hast mir doch gestern diese Nachricht hinterlassen. Erst wollte ich sie ignorieren, aber das ging nicht. Mein Sohn hat mich angerufen und will ein mobiles Restaurant eröffnen, in einem Lkw und sein Studium hat er geschmissen.“
„Wundervoll.“, sagt Lulu nur und bedeutet Anne weiterzureden. Wie eine Herrscherin über ihr fremdes, absonderliches Königreich sitzt Lulu da und gebietet mit kleinsten Handbewegungen zu sprechen oder zu schweigen, denkt Anne.
„Ich habe jedenfalls dann die Möbel meiner Mutter, die ich eigentlich verschenken wollte, doch lieber für Geld angeboten, wegen des Lkws und weil ich dachte, vielleicht würde es sie freuen, dass sie ihrem Enkel hilft. Nein, das stimmt nicht, ich hab es einfach gemacht. Und dabei eher hämisch gedacht, dass sie nun ihrem Enkel wenigstens damit hilft.“ Anne macht eine Pause und blickt zu Lulu als erwarte sie einen Richtspruch von ihr.
„Wundervoll.“, wiederholt Lulu nur und Anne redet, ein bisschen erleichtert weiter.
„Und dann, nachdem ich den ganzen Tag diesem Schrank aus dem Weg gegangen bin, habe ich ihn doch ausgeräumt. Ich habe alles ausgeräumt Lulu, er ist ganz leer und es ist kein Schuhkarton drin. Nur Anziehsachen. Sonst nichts.“
„Ah ja. Ich verstehe.“, sagt Lulu und nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Anne weiß nicht recht, ob Lulu vorhat noch weiterzusprechen, aber nach einem Augenblick des Schweigens beginnt Anne von Neuem.
„Es gibt doch nur diesen einen Schrank in der Wohnung…“
„Ja, nur diesen.“
„Und hast du vielleicht eine Kommode gemeint?“
„Nein, den Schrank.“
„Also, dann verstehe ich es nicht.“, sagt Anne und lässt ihre Schultern fallen.
„Liebes, das musst du dir auch angewöhnen, das habe ich viel zu spät für mich entdeckt: die Taubheit auf dem Appellohr.“ Annes Mund steht offen und Lulu beginnt zu lachen.
„Wenn die Leute offensichtlich etwas wollen, aber dann nur so etwas sagen wie: Oh, es ist aber kühl hier drin, oder so. Dann bin ich einfach taub. Ich finde, jeder Mensch sollte sich darin üben, klar zu sagen, was er oder sie möchte. Alles andere ist für beide Seiten doch sonst auf die Dauer wirklich beschwerlich, findest du nicht auch, Liebes?“
„Ich bin zu dir gekommen, weil ich dich fragen wollte, ob du weißt, was es mit dem leeren Schrank auf sich hat. Ich möchte wissen, ob du dir einen Scherz mit mir erlaubt hast und es gar keinen Karton gibt oder ich an der falschen Stelle suche oder…“ Anne sackt ein wenig tiefer in die Chaiselongue und lässt den Satz unvollendet im Raum schweben.
„Lass uns gehen.“, sagt Lulu und steht auf. „Ich zeige dir alles, was du wissen musst und dann kannst du, wenn du möchtest jederzeit wieder hochkommen.“ Anne, die erwartet hat, dass sie nun in die Wohnung ihrer Mutter hinuntergehen, stellt überrascht fest, dass Lulu sie in ihr eigenen Schlafzimmer führt. Dort steht, unter Töpfen, aus denen sich Blumen hinunterranken der exakt gleiche Schrank wie bei ihrer Mutter.
„Diese Schränke gehörten meinen Eltern. Sie liebten sich sehr, weiß du, aber jeder Mensch braucht eben seine Geheimnisse. Meine Mutter hat damals darüber gelacht, als sie mir erzählte, dass im Grunde der beiden natürlich wusste, wo der andere seine Privatissima verbirgt, denn wie gesagt, die Schränke sind identisch. Es ist also eher symbolisch gewesen. Aber Symbole sind ja nicht zu unterschätzen. Der einzige Mensch auf der Welt, der wusste, wo meine sind und umgekehrt, war deine Mutter.“
Lulu beugt sich in den Schrank hinein und fährt mit ihrer linken Hand in das zweite Fach von unten.
„Gib mir deine Hand.“, sagt sie und Anne streckt auch ihren Arm in das Fach. „Hier, merkst du diese Erhebung?“ Anne nickt. „Du musst sie nur kräftig hineindrücken und dann wird sich der Boden des Schrankes anheben. Der Schrank hat nämlich zwei. Sei mir nicht böse, wenn ich das jetzt nicht vormache, Liebes, aber so weit sind wir noch nicht.“
Anne nickt und Lulu lotst sie mit einem leichten Druck ihrer Hände wieder aus dem Schlafzimmer und hinaus aus ihrer Wohnung. Vor der Tür steht Anne noch eine Weile und läuft dann langsam, Schritt für Schritt die Treppe hinunter zu Wohnung ihrer Mutter.