Wir halten hier die Stellung!

      Hallo ihr Lieben !

Corona haben wir gerade hinter uns gelassen und sind nun fit für unseren Urlaub:))

         Diesen gönnen wir uns vom 

             14.01.2024 – 21.02.2024

Ab 22.02.2024 haben wir wieder wie gewohnt von

Mi bis Sa.   11.00 – 18.00 Uhr

geöffnet und freuen uns sehr über neue Aufträge!

 

 

Bleibt gesund… und munter!

Katrin & Aleksander

Katrin & Aleksander

Wir arbeiten gemeinsam seit 1999 in unserer Goldschmiede in Schöneberg. Seit 1985 ist Berlin die  Wahlheimat für unsere pfälzischen Wurzeln. Was uns verbindet sind unsere drei Kinder, eine lange Liebesgeschichte und die Freude an unserem Beruf. Katrin ist gerne viel unterwegs, passionierte Feuerwehrfahrerin; Aleksander ist der selbsternannte „Ladenhüter“ und die meiste Zeit des Tages hinter seinem Werktisch anzutreffen.

Schmiede

  • Ganz so viel Erfahrung wie unser Werktisch (ca. 100 Jahre) haben wir zwar nicht, aber Aleksander ist seit 1991 Goldschmied. Seit wir gemeinsam unter dem Namen Icon arbeiten, beraten und fertigen wir in Schöneberg. Uns ist der Spaß an der Arbeit sehr wichtig. Wir erarbeiten den Schmuck gerne mit Ihnen zusammen und freuen uns auf neue Impulse und Herausforderungen. Bei uns wird sehr viel Wert auf authentisches Schaffen und ehrliche Beratung gelegt.

  • Wir fertigen keine Kollektionsware, sondern Unikate. Unser Schwerpunkt liegt bei Ringen und Trauringen. Im Laden haben wir eine erkleckliche Anzahl unterschiedlicher Modelle, die der ersten Orientierung dienen oder auch schon Objekt der Wahl sein können. Da wir all unsere Edelmetalle selbst legieren, kann jedes Schmuckstück individuell auf Ihren Hauttyp abgestimmt werden.

  • Wir fertigen auch Einzelstücke, Ketten oder Sonderanfertigungen nach Ihren Wünschen von Anhängern bis zu Manschettenknöpfen. Natürlich führen wir auch Reparaturen aus.

Schmuck

Trauringe Symbol

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spontane Puristen

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Laden

Unsere Schmiede in der Goltzstraße haben wir nach unseren Vorstellungen gestaltet. Wir lieben das geradlinige Konzept mit Sinn für kleine Skurrilitäten und organischen Formen. Das sieht man am Schmuck, genauso wie an der Gestaltung der Schmiede selbst. Sie finden uns dort von Mittwoch bis Samstag von 11.00 bis 18.00 Uhr.

Goldschmiede Icon

Katrin & Aleksander Thürigen
Goltzstraße 23 · 10781 Berlin
Tel 030 / 781 36 84
kontakt@goldschmiede-icon.de

On Tour

PaarWeise

An dieser Stelle lesen Sie jeden Monat
von einer neuen Berliner Begegnung

Julius-Leber-Brücke Teil 7

Anne steht vor dem weit geöffneten Kleiderschrank, ordentlich aufgehängte Blusen und Röcke vor sich. Sogar ihre Hosen hat ihre Mutter aufgehängt, stellt Anne mit leichter Verwunderung fest. Sie denkt an ihren eigenen Schrank und das Chaos darin. Sie hat insgesamt vielleicht fünf Kleiderbügel und nie einen Gedanken daran verschwendet, ihre Hosen auf Bügeln aufzubewahren. Kurz überlegt sie, ob sie ein ordentlicherer Mensch geworden wäre, wenn ihre Mutter nicht gegangen wäre. Ob sie ihr gezeigt hätte, wie man seine Kleidung aufbügelt und dann, mit Bundfalten versehen, aufhängt. Sie schüttelt den Kopf, lässt sich auf ihre Knie sinken und sucht den Boden des Schrankes ab. Wo sonst würde man Schuhkartons abstellen. Aber auf dem Boden des Schrankes sind Stoffkisten, in denen ihre Mutter ihre Unterwäsche und Strumpfhosen aufbewahrt hat. Anne zieht sie heraus, um zu sehen, ob vielleicht dahinter noch etwas steht. Nichts. Sie zieht die Oberteile aus den Fächern, nimmt alle Kleider von der Stange und wirft sie aufs Bett. Hinter ihr stapeln sich die Anziehsachen und Anne beschließt, sie gleich in die großen, blauen Säcke zu verfrachten, bevor sie sonst die Arbeit zweimal erledigen muss. Nach einer halben Stunde sitzt Anne zwischen fünf prall gefüllten Säcken vor einem völlig leeren Schrank. Ratlos. Ob Lulu sich geirrt hat? Einen anderen Schrank gibt es nicht und Anne hat ihn komplett geleert. Oder war das ein böser Scherz? Aber das würde Lulu dann sicher nicht machen.
Anne beschließt zu ihr zu gehen und sie einfach zu fragen.
Sie steht auf, nimmt sich den Wohnungsschlüssel von der Kommode und wirft die Tür hinter sich zu. Sie läuft mit schnellen Schritten den Gang hinunter, muss sich zusammennehmen, nicht einfach loszurennen und bleibt dann vor dem Fahrstuhl stehen. Sie weiß überhaupt nicht wo Lulu wohnt. Sie hat ihr nie ihre Zimmernummer genannt. Also fährt Anne hinunter an den Empfang und trifft dort auf einen jungen Mann, den sie zuvor noch nicht gesehen hat.
„Ich möchte gerne zu Lulu, ähm Luise.“, sagt Anne und merkt wie seltsam sich das anhören muss. Sie setzt noch einmal an.
„Hallo. Ich bin Anne Borkowski, meine Mutter ist vergangene Woche verstorben und ich räume gerade ihre Wohnung aus. Eine Freundin von ihr, die auch hier wohnt, hat mir angeboten, behilflich zu sein und ich weiß leider nicht, wo ich sie finden kann. Könnten Sie mir weiterhelfen? Bitte.“
Der Mann lächelt sie an, ein bisschen weniger verwirrt.
„Mein Beileid zu Ihrem Verlust, ihre Mutter war eine sehr nette Frau, sie wird uns hier allen sehr fehlen.“, antwortet der Mann und Anne muss sich zusammennehmen, um ihm nicht ins Wort zu fallen, nickt nur. Murmelt etwas, das weder sie noch der Mann versteht.
„Sie meinen sicher Frau Blumbach. Sie und ihre Mutter haben viel Zeit miteinander verbracht. Sie wohnt direkt über der Wohnung ihrer Mutter, genau die gleiche Tür nur ein Stockwerk obendrüber.“
„Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.“, beeilt sich Anne zu sagen und wendet sich ab. Sie geht zur Treppe, nimmt immer zwei Stufen auf einmal und zieht sich mit dem Arm zusätzlich am Geländer hoch. Vor Lulus Tür hält sie kurz inne und atmet zweimal tief durch. Ihr Herz schlägt von Innen gegen ihren Brustkorb und sie merkt, dass sich trotz der Kälte zwei nasse Flecken unter ihren Achseln gebildet haben. Sie klopft an die Tür und klingelt zur Sicherheit noch einmal. Wer weiß, vielleicht hört Lulu nicht mehr gut.
„Ich bin nicht taub, meine Liebe, nur langsam. So schnell komm ich nicht mehr hoch, wenn ich mich mal hingesetzt habe.“, sagt Lulu zur Begrüßung als sie ihr die Tür öffnet.
Lulu ist bereits ausgehfertig geschminkt und im Haar trägt sie eine große Spange, mit einer roten Hibiskusblüte darauf. Aber sie hat noch ihren Morgenmantel an, ein seidiger, bodenlanger Mantel mit breiten Ärmeln. Er ist wunderschön, stellt Anne fest und wünscht sofort, er würde ihr gehören. Sie kann sich schon bei sich zu Hause auf dem Bett sehen, ein Bein über das andere gelegt, ein Buch in der Hand, der seidige Mantel… Sie muss sich konzentrieren.
„Entschuldige, ich wollte nicht hetzen.“
„Doch, sicher wolltest du das. Ist aber nicht schlimm. Ich war früher auch so. Nichts konnte schnell genug gehen. Im Kopf hat sich da nichts geändert bei mir, der Körper kommt nur nicht mehr hinterher. Da kann man dann versuchen, sich dagegen zu wehren, oder man übt sich in Geduld. Na, aber das war eben noch nie mein Ding.“, lacht Lulu und winkt Anne in die Wohnung.
Sobald sie die Wohnung betritt, beruhigt Anne sich unweigerlich, weil sie das Gefühl hat, in ein phantastisches Paralleluniversum einzutreten. Andere Leute hätten Lulu vielleicht als Messi bezeichnet, und damit hätten sie vermutlich auch nicht ganz Unrecht gehabt. Aber die Wohnung von Lulu war an keinem Fleckchen unordentlich oder gar dreckig, sie war einfach nur sehr voll. Als wäre Lulu aus einem verwunschenen Schloss in diese Drei-Zimmer-Wohnung umgesiedelt worden und hätte sich von nichts trennen können. An den Wänden ist kaum mehr das Weiß der Tapete zu erkennen, denn bis unter die Decke hängt ein Gemälde neben und über dem anderen. Manche in Rahmen, und andere wieder nicht. Ein Durcheinander, das herrlich harmonisch über Anne kommt und ihren Herzschlag sofort beruhig.
„Setz dich, meine Liebe, setz dich, ich hole dir eine Tasse Tee und bin gleich wieder da. Das hier, das bin übrigens ich, als ich vier Jahre alt war. Mit meinen Eltern. In Öl. Das ist noch was anderes als diese Fotos, die sich die Leute in der Drogerie ausdrucken, wo sie immer alle roten Augen drauf haben.“, sagt Lulu und läuft in die Küche.
„Die roten Augen werden mittlerweile schon von den Kameras weggemacht.“, ruft Anne ihr hinterher, während sie zu dem Gemälde geht, auf das Lulu gezeigt hat. „Ich weiß nicht wie das geht, aber es funktioniert. So schlimm sehen die Bilder also nicht mehr aus.“
„Na, das sind doch gute Nachrichten, denke ich.“, antwortet Lulu und hält Anne eine Tasse mit Tee entgegen. „Mein Vater hieß Hans und meine Mutter Gerda. Ich glaube, mittlerweile sind diese Namen wieder in Mode gekommen, aber für mich sind sie alt. Weil es die Namen meiner Eltern sind, nehme ich an. Maria, ist das für dich auch ein Name für alte Leute?“
Anne sieht Lulu ein wenig verwirrt an. Sie muss sich erst wieder an diese seltsame Frau gewöhnen.
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, wenn ich ehrlich bin, aber ich schätze, der Name ist für mich eh gestorben.“ Lulu nickt traurig und erst als Anne ihren Blick sieht, wird ihr bewusst, wie taktlos das von ihr war. „Entschuldige Lulu, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ihr beide euch nah wart. Wenn ich über meine Mutter rede, habe ich mir wohl einen harten Tonfall zugelegt, über die Jahre. Als würde es dann weniger wehtun, weißt du.“
Lulu nickt wieder.
„Ist gut, Liebes, ich verstehe schon. Setz dich.“
Anne setzt sich auf eine schmale Chaiselongue, die mit bordeauxrotem Samt bezogen ist. Lulu setzt sich auf einen Hocker mit geschwungenen Füßen. Lulu sieht Anne mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartet darauf, dass Anne anfängt zu sprechen. Anne, die es so eilig hatte hier her zu kommen, weil der Schuhkarton ihr auf der Seele gebrannt hat, würde nun nichts lieber als einfach zwei Stunden bei Lulu in der Wohnung sitzen und sie über ihre Kindheit und ihre Leben ausfragen. So tun, als gäbe es die Wohnung direkt unter ihnen gar nicht und sie würde einfach eine alte Bekannte nach langer Zeit wieder besuchen.
„Du hast mir doch gestern diese Nachricht hinterlassen. Erst wollte ich sie ignorieren, aber das ging nicht. Mein Sohn hat mich angerufen und will ein mobiles Restaurant eröffnen, in einem Lkw und sein Studium hat er geschmissen.“
„Wundervoll.“, sagt Lulu nur und bedeutet Anne weiterzureden. Wie eine Herrscherin über ihr fremdes, absonderliches Königreich sitzt Lulu da und gebietet mit kleinsten Handbewegungen zu sprechen oder zu schweigen, denkt Anne.
„Ich habe jedenfalls dann die Möbel meiner Mutter, die ich eigentlich verschenken wollte, doch lieber für Geld angeboten, wegen des Lkws und weil ich dachte, vielleicht würde es sie freuen, dass sie ihrem Enkel hilft. Nein, das stimmt nicht, ich hab es einfach gemacht. Und dabei eher hämisch gedacht, dass sie nun ihrem Enkel wenigstens damit hilft.“ Anne macht eine Pause und blickt zu Lulu als erwarte sie einen Richtspruch von ihr.
„Wundervoll.“, wiederholt Lulu nur und Anne redet, ein bisschen erleichtert weiter.
„Und dann, nachdem ich den ganzen Tag diesem Schrank aus dem Weg gegangen bin, habe ich ihn doch ausgeräumt. Ich habe alles ausgeräumt Lulu, er ist ganz leer und es ist kein Schuhkarton drin. Nur Anziehsachen. Sonst nichts.“
„Ah ja. Ich verstehe.“, sagt Lulu und nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Anne weiß nicht recht, ob Lulu vorhat noch weiterzusprechen, aber nach einem Augenblick des Schweigens beginnt Anne von Neuem.
„Es gibt doch nur diesen einen Schrank in der Wohnung…“
„Ja, nur diesen.“
„Und hast du vielleicht eine Kommode gemeint?“
„Nein, den Schrank.“
„Also, dann verstehe ich es nicht.“, sagt Anne und lässt ihre Schultern fallen.
„Liebes, das musst du dir auch angewöhnen, das habe ich viel zu spät für mich entdeckt: die Taubheit auf dem Appellohr.“ Annes Mund steht offen und Lulu beginnt zu lachen.
„Wenn die Leute offensichtlich etwas wollen, aber dann nur so etwas sagen wie: Oh, es ist aber kühl hier drin, oder so. Dann bin ich einfach taub. Ich finde, jeder Mensch sollte sich darin üben, klar zu sagen, was er oder sie möchte. Alles andere ist für beide Seiten doch sonst auf die Dauer wirklich beschwerlich, findest du nicht auch, Liebes?“
„Ich bin zu dir gekommen, weil ich dich fragen wollte, ob du weißt, was es mit dem leeren Schrank auf sich hat. Ich möchte wissen, ob du dir einen Scherz mit mir erlaubt hast und es gar keinen Karton gibt oder ich an der falschen Stelle suche oder…“ Anne sackt ein wenig tiefer in die Chaiselongue und lässt den Satz unvollendet im Raum schweben.
„Lass uns gehen.“, sagt Lulu und steht auf. „Ich zeige dir alles, was du wissen musst und dann kannst du, wenn du möchtest jederzeit wieder hochkommen.“ Anne, die erwartet hat, dass sie nun in die Wohnung ihrer Mutter hinuntergehen, stellt überrascht fest, dass Lulu sie in ihr eigenen Schlafzimmer führt. Dort steht, unter Töpfen, aus denen sich Blumen hinunterranken der exakt gleiche Schrank wie bei ihrer Mutter.
„Diese Schränke gehörten meinen Eltern. Sie liebten sich sehr, weiß du, aber jeder Mensch braucht eben seine Geheimnisse. Meine Mutter hat damals darüber gelacht, als sie mir erzählte, dass im Grunde der beiden natürlich wusste, wo der andere seine Privatissima verbirgt, denn wie gesagt, die Schränke sind identisch. Es ist also eher symbolisch gewesen. Aber Symbole sind ja nicht zu unterschätzen. Der einzige Mensch auf der Welt, der wusste, wo meine sind und umgekehrt, war deine Mutter.“
Lulu beugt sich in den Schrank hinein und fährt mit ihrer linken Hand in das zweite Fach von unten.
„Gib mir deine Hand.“, sagt sie und Anne streckt auch ihren Arm in das Fach. „Hier, merkst du diese Erhebung?“ Anne nickt. „Du musst sie nur kräftig hineindrücken und dann wird sich der Boden des Schrankes anheben. Der Schrank hat nämlich zwei. Sei mir nicht böse, wenn ich das jetzt nicht vormache, Liebes, aber so weit sind wir noch nicht.“
Anne nickt und Lulu lotst sie mit einem leichten Druck ihrer Hände wieder aus dem Schlafzimmer und hinaus aus ihrer Wohnung. Vor der Tür steht Anne noch eine Weile und läuft dann langsam, Schritt für Schritt die Treppe hinunter zu Wohnung ihrer Mutter.

Julius-Leber-Brücke Teil 6

Ömer parkt das Auto auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim, schaltet das Radio aus und dreht sich auf dem Sitz soweit es geht, damit er Anne ins Gesicht sehen kann.
„Ich hätte es dir vielleicht schon gestern sagen sollen, aber ich habe nicht den richtigen Zeitpunkt erwischt.“ Anne nickt nur und würde sich gerne wieder abwenden, aber sein Blick ist so fest, dass sie das Gefühl hat, sie müsste die Verbindung zwischen ihnen zersägen, damit sie in eine andere Richtung gucken kann.
„Ja, ich kannte deine Mutter. Sie war viel mit Lulu unterwegs und die ist ja nun mal jeden Abend bei mir. Manchmal war deine Mutter auch dabei. Aber so offen wie Lulu ist, so verschlossen war deine Mutter. Nicht unhöflich oder unsympathisch. Überhaupt nicht.“ Anne nickt immer weiter, obwohl sie nicht weiß weshalb. Vielleicht einfach nur um Ömer ein sichtbares Signal zu geben, dass er nicht aufhören soll zu sprechen. Es ist seltsam, etwas über ihre Mutter zu erfahren und auch wenn sie sich so lange dagegen gewehrt hat, ist es überraschender Weise völlig in Ordnung wenn Ömer es ihr erzählt.
„Kennst du diese Menschen, denen du alles einfach erzählst und dir danach denkst, dass es ein super Gespräch gewesen ist, aber nach ein paar Tagen bemerkst, dass nur du selbst geredet hast und alles von dir preisgegeben und der andere Mensch es irgendwie geschafft hat, gar nichts von sich zu erzählen?“, fragt Ömer und Anne nickt ein bisschen intensiver mit dem Kopf als sie es eh schon die ganze Zeit tut.
„So war deine Mutter.“
„Das überrascht mich nicht.“, antwortet Anne und muss für sich hinzufügen, dass sie im Grunde nichts überraschen würde.
„Als ich noch klein war, war sie sehr offen. Alle mochten sie, zumindest soweit man das als Kind beurteilen kann. Aber ich glaube, sie hatte eben auch immer Geheimnisse.“ Den letzten Satz murmelt Anne und redet eher mit sich als mit Ömer. Ömer sieht sie weiterhin mit einem gespannten Gesichtsausdruck an, als würde er hoffen, dass sie weiterredet.
„Tja, danke für die Fahrt.“, sagt Anne.
„Bist du mir böse?“, fragt Ömer und die fast kindliche Art der Frage rührt Anne.
„Nein, bin ich nicht. Es ist eben nur eine besondere Situation für mich, aber es ist alles gut. Auch, dass es nun du bist, der Späti-Mann, der mir von meiner Mutter erzählt, ist doch auch irgendwie absonderlich. Aber gut.“ Anne lächelt. Sie verabredet mit Ömer, dass sie später im Laden vorbeikommt und sie dann gemeinsam nach Hause fahren.
„Aber ich kann erst gegen zehn los, dann kommt die Nachtschicht. Ist das für dich in Ordnung?“, fragt er.
„Na klar, ich will ja was von dir.“, antwortet Anne und wird zu ihrem Schrecken leicht rot, als ihr auffällt wie plump zweideutig die Antwort war. Um das zu überspielen, fragt sie betont ruhig, ob sie dann vielleicht was zu essen mitbringen soll und sie einigen sich auf Asiatisch. Für Ömer ohne Schwein, sonst mit allem. Anne winkt ihm zum Abschied und macht sich auf den Weg hoch in die Wohnung.
Oben angekommen, macht sie sich als allererstes einen Kaffee und schreibt eine Liste mit Möbeln, die sie für Ebay fotografieren möchte. Ihren Laptop hat sie mitgenommen und stellt ihn auf den Tisch, klappt ihn auf und macht dann das Küchenradio an. Der Moderator sagt, später wird es schneien, also beschließt Anne die Fotos zu machen, solange das Licht noch vorteilhaft ist. Der Schrank im Schlafzimmer steht ganz oben auf der Liste, aber Anne weiß jetzt schon, dass sie ihn als letztes fotografieren wird. Der Schuhkarton. Sobald sie daran denkt, schlägt ihr Herz schneller. Sie ist aufgeregt und das ärgert sie. Deswegen wird sie es so lange wie möglich hinauszögern, um sich zu beweisen, dass es ihr völlig gleichgültig ist. Wie stupide man immer wieder versucht sich selbst zu betrügen, denkt Anne. Als ob sie nicht durchschauen würde, was sie da vorhat. Und auch wenn sie, während sie das Sofa, den Tisch, eine Kommode und ein paar Lampen fotografiert, permanent darüber nachdenkt, dass sie sich doch jedes Mal dabei erwischt, wie sie versucht sich selbst zu hintergehen, wartet sie doch bis ganz zum Schluss bis sie sich dem Schrank zuwendet. Sie stellt sogar alle Bilder und Beschreibungen bei Ebay ein – zu verschenken – bevor sie sich ins Schlafzimmer wagt. Ineffektiver Arbeitsablauf, denkt Anne, während sie ihm Türrahmen des Schlafzimmers steht und den Schrank anstarrt. Sie wird erst noch einen Kaffee trinken und dann. Dann wird sie sich den Schuhkarton ansehen.

Anne steht vor dem Schrank, eine Tasse in ihrer rechten Hand. Der Kaffee ist mittlerweile schon kalt geworden, so lange steht sie bereits vor den verschlossenen Türen, nicht in der Lage sich dazu durchzuringen, sie zu öffnen. In ihrer Tasche vibriert ihr Telefon und Anne atmet erleichtert aus. „Hallo Mama, ich bin’s.“, sagt Luki und fragt: „Wie geht’s dir?“
„Ganz gut. Papa hat mir gesagt, dass du kommen willst.“, antwortet Anne.
„Ja, ich komme morgen. Kann ich bei dir schlafen, vielleicht ein, zwei Nächte? Dann geh ich zu Freunden.“
„Ja, sicher.“, entgegnet Anne.
„Mama, ich wollte mit dir und Papa reden, also vielleicht essen gehen oder so.“
„Ja, ok. Ist alles ok bei dir?“, fragt Anne.
„Ja, schon, ich wollte nur mal reden.“
„Luki?“, hakt Anne nach.
„Ach, was soll’s, aber sag es noch nicht Papa, ja? Ich hab das Studium geschmissen. Ich will nicht mehr. Bin auch eine Weile jetzt schon nicht mehr dagewesen. Aber ich weiß, was ich machen will.“
„Ah, na dann ist ja gut.“, sagt Anne.
„Ehrlich Mama, ich weiß es genau. Ich will mir einen UPS Wagen kaufen.“
„Du willst Pakete verteilen, Luki?“
„Mann, Mama, jetzt sei nicht so. Ich will mir nur den Wagen kaufen und dann will ich ihn umbauen, in ein mobiles Café. Da kann ich mich überall hinstellen. Ich bin der Kaffee-Experte und Miriam backt den Kuchen.“
„Wer ist Miriam?“, fragt Anne und fragt sich, wann sie das letzte Mal mit Luki telefoniert hat. Letzte Woche, schätzt sie. Sie setzt sich auf das Bett ihrer Mutter, notiert sich im Geiste, dass auch das Bett noch fotografieren muss.
„Miriam ist meine Freundin, schon ein paar Monate, sie ist toll. Kann sie auch bei dir schlafen?“
„Ja, sicher.“, antwortet Anne und fühlt sich wie ein Roboter, der einprogrammierte Antworten liefert ohne sie wirklich zu verinnerlichen.
„Mama, und deswegen muss ich auch mit euch reden, ich denke, für den Wagen und alles, ich habe das durchgerechnet, ich denke, ich werde so sieben- bis achttausend Euro brauchen.“
„Das hast du dir so errechnet, ja?“, fragt Anne. „Und hast du auch berechnet wie ich an so viel Geld plötzlich kommen soll?“ Luki schweigt eine Weile.
„Mama, ich weiß, das war jetzt viel Info, aber es ist so rausgeplatzt. Wir reden vielleicht morgen ja?“ Anne nickt bis ihr einfällt, dass sie etwas sagen muss.
„Ja, machen wir. Ruf mal Papa an und sucht euch ein Restaurant, ok?“
„Hab dich lieb.“, sagt Luki noch, das hat er schon lange nicht mehr gesagt, fällt Anne auf und sie denkt kurz darüber nach, ob er das einkalkuliert hat. Dann steht sie auf, setzt sich wieder vor ihren Laptop und löscht, das „zu verschenken“ und gibt stattdessen immer ein paar Hundert Euro an. So kann ihre Mutter ihre Enkel unterstützen, auch wenn sie davon nichts mehr mitbekommt. Anne geht zu ihrer Tasche und holt die Zigaretten und das Feuerzeug. Sie stellt sich auf den Balkon.

Luki hat eine Freundin. Und das Studium hingeworfen. Will ein UPS Wagen als Café. Anne fragt sich, wieso sie nichts von alledem hat kommen sehen. Nicht mal irgendeine Ahnung hatte sie. Luki wohnt in Kaiserslautern, studiert Bauingenieurwesen – Konstruktiver Ingenieurbau. Jetzt hat sie es sich endlich gemerkt. Bei den Namen der Studiengänge fühlt Anne sich immer besonders alt. Als sie noch studiert hat, gab es das übliche: Jura, Literaturwissenschaften, Medizin, Veterinärmedizin. Alles Namen, die ihr gesagt haben, was die Leute ungefähr in der Uni getan haben. Als sie mit Luki die Studiengangsübersichten durchgegangen ist, dachte sie, sie wäre plötzlich auf einem unbekannten Planeten gelandet. Dann ist ihr aufgefallen, dass nur die Zeit weitergelaufen ist und sie erinnert sich, dass ihr das Angst gemacht hat. So als könnte sie den Zugang zu der Welt verlieren, wenn sie noch weiter alt wird. Eine von diesen Frauen, deren Haare lila gefärbt sind und die kopfschütteld jungen Menschen hinterherblickt und vielleicht noch ein wenig mit den Händen fuchtelt und etwas von den guten alten Zeiten und der Jugend von heute vor sich hinmurmelt. Das könnte passieren, denkt Anne und atmet den Rauch aus. Ihr ist kalt. Wie im Schock ist sie einfach im Pullover nach draußen gegangen und hat vergessen, dass Minusgrade herrschen. Bis auf die lila Haare, das würde mir nicht passieren, denkt Anne. Denn das hat sie noch nie verstanden? Warum lila? Sie zieht ihr Handy aus der Hosentasche und googelt: Lila Haare bei alten Frauen. Google ist schneller und macht daraus: bei alten Omas. Anne liest und raucht. Es scheint sich um ein Shampoo zu handeln, das eigentlich den Gelbstich in weißem Haar entfernen soll, bei zu häufiger Anwendung aber wohl lila wird. Oder man glaubt kosmopolitika, die schreibt, dass die älteren Frauen kein Geld haben und sich deswegen die Haare mit Durchschlagpapier färben würden. Die Oma von kosmopolitika würde das jedenfalls so machen. Anne hebt den Blick von ihrem Handy, stellt fest, dass ihre Zigarette schon bis zum Filter runtergebrannt ist und drückt sie in frostharte Blumenerde in einem Kübel auf dem Geländer.
Sie steckt ihr Handy in die Hosentasche, zieht die Balkontür auf, geht ins Schlafzimmer, reist die Schranktür auf und kramt nach dem Schuhkarton. Ob es Lukis Nachricht war, die sie so aus dem Konzept gebracht hat oder sein jugendlicher Leichtsinn, die Angst vor Altersarmut und dem Färben der Haare mit Pauspapier. Anne weiß es nicht. Es ist auch egal, sie will jetzt wissen, was es mit diesem Schuhkarton auf sich hat.

Julius-Leber-Brücke Teil 5

Anne hat ihren Wecker auf 6.00 Uhr gestellt, wird aber vor ihm wach und liegt noch eine Weile in ihrem Bett. Sie hat es vor zwei Tagen frisch bezogen und genießt die Steifheit der Kissen und ihrer Decke. Ihr Vater hat sich früher immer über sie lustig gemacht und sich beschwert, dass er ständig damit beschäftigt war, ihre Bezüge zu waschen, die den Wäschekorb zum Überlaufen brachten. Bis heute bezieht sie ihr Bett jede Woche neu. Nur dass sie nun eben selbst ihre Laken waschen muss. Normalerweise ist sie kein Fan von Weichspüler, aber ihre Bezüge dürfen nicht ohne gewaschen werden, weil ihr sonst der Geruch fehlen würde. Und obwohl sie sonst keinen großen Wert auf gebügelte Kleidung legt, bügelt sie ihre Decken- und Kissenbezüge. Darüber haben sich dann später ihre Kinder amüsiert. Außen pfui, innen hui, haben sie gesagt und Anne war ein bisschen beleidigt deswegen gewesen. „Als ob ich verloddert aussehen würde, also bitte.“, hat sie dann in gespielt empörtem Ton gesagt, um ihre ehrliche Empörung dahinter zu verbergen. Der Wecker klingelt und sie rollt sich in eine halb sitzende Lage, richtet sich ein wenig auf und wartet auf das Knacken im Rücken während sie ihre Arme Richtung Decke streckt. Sie nimmt ihr Handy, steckt es in ihre Pyjamahose und läuft in die Küche. Dort liegen Tasche und Jutebeutel von gestern und während ihr Kaffee durchläuft, schüttet sie den Inhalt ihrer Tasche erneut aus, diesmal auf ihre Arbeitsplatte. Die muss in die Reinigung, denkt sie und wirft die Tasche in den Flur. Da wird sie später drüber stolpern und sich daran erinnern, dass sie weggebracht werden muss. In ihrer Tasche vibriert ihr Handy. Thorsten ruft an. Sie drückt ihn weg und beschließt ihm zu schreiben, wenn sie ihren Kaffee getrunken hat.
Entschuldige, ich war unter der Dusche, schreibt sie und Klappt das mit dem Auto heute?
Ja, ich fahre jetzt los und würde dir dann den Schlüssel hoch bringen, ist das ok?, schreibt Thorsten. Leg ihn doch einfach in den Briefkasten, kann sein, dass ich unterwegs bin. Danke, das wäre toll. Anne hat ein schlechtes Gewissen, Thorsten so fern zu halten, aber es geht nicht anders. Anne, jetzt mal ehrlich, kommt es dann auch prompt von ihm zurück, was ist los? Erst soll ich dich nicht fahren, und falls du es vergessen hast, du kannst gar nicht Auto fahren. Hilft dir jemand anders? Bist du sauer? Ich habe das Gefühl, du willst mich nicht sehen, aber ich versteh es nicht. Und überhaupt – das ist doch albern. Anne atmet schnaubend durch die Nase aus. Sie setzt zweimal an, etwas zu schreiben, aber dann lässt sie es doch und geht duschen.
Sie dreht den Knauf ganz nach links und wartet bis das Wasser richtig dampft und der Spiegel im Bad beginnt zu beschlagen. Dann steigt sie in die Dusche und zuckt vor dem Wasserstrahl zurück. Viel zu heiß. Mit dem Kopf unter dem Wasserstrahl und geschlossenen Augen steht sie in der Dusche, spürt wie die Härchen an ihren Armen sich aufstellen, sie sind wahrscheinlich geschockt, vom schnellen Umschwung einer winterkalten Küche und dem heißen Wasser. Kann euch verstehen, denkt Anne und ihr fällt die seltsame Nachricht von Lulu ein. In den Schuhkartons. Was soll das? Anne ist fast ein bisschen sauer, weil sie so nun gezwungen ist, sich damit auseinanderzusetzen. Hat ihre Mutter da etwas für sie hinterlegt und Lulu beauftragt, ihr das zu sagen? Aber dann wäre Lulu doch, wie jeder normale Mensch einfach zur Wohnung gekommen, hätte geklopft und sich vorgestellt. Aber Lulu ist sicher nicht, wie alle anderen Menschen, das hat Anne nun schon festgestellt – und außerdem, sie hat ja gesagt, dass sie von ihrer Mutter wusste, dass Anne und sie nicht miteinander geredet hatten. Vielleicht ist sie auch deswegen nicht gekommen, weil sie ihr ein bisschen Zeit geben wollte. Anne dreht das Wasser ab. Sie steigt aus der Dusche und trocknet sich ab. Creme lässt sie heute weg und Haare können auch so trocknen. Sie läuft, in ihren Bademantel gewickelt zurück in die Küche und beschließt Ömer doch zu schreiben. Guten Morgen Ömer, hier schreibt Anne. Ich komme nun doch auf dein Angebot von gestern zurück, wenn das für dich noch in Ordnung ist. Aber nur, wenn es dir wirklich keine Umstände macht. Danke, Gruß Anne. Während Anne sich anzieht, lässt sie das Handy nicht aus den Augen. Vielleicht war das doch keine so gute Idee, überlegt sie, er wollte bestimmt nur höflich sein und da sagt man Sachen, von denen man sich sicher ist, dass das Gegenüber sie nicht einlösen wird und das Gegenüber weiß das auch, reine Formsache. Aber jetzt ist sie das Gegenüber, das es nicht verstanden hat. Sie schiebt in Handy in die Tasche ihres Bademantels und läuft ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Die Bücher, die könnte sie noch schnell wegräumen, beschließt sie, beugt sich zur Tasche hinunter als es an ihre Tür klopft. Sie hält inne. Bewegt sich nicht. Stoptanz, fällt ihr ein, sie sieht aus wie eines der vielen Kinder auf unzähligen Kindergeburtstagen, die einfrieren, sobald die Musik ausgeschaltet wird. „Anne, ich bin’s Thorsten.“, ruft Thorsten hinter der Tür. Anne richtet sich ganz langsam und vorsichtig wieder auf. Es klopft nochmal, diesmal lauter. Anne läuft auf Zehenspitzen zum Küchenradio und dreht es vorsichtig leiser. Es klingelt. Nochmal, nur das diesmal Annes Handy klingelt. Scheiße, das hat sie vor dem Duschen laut gestellt, damit sie die Nachricht von Ömer nicht verpasst. „Anne, echt jetzt. Was für eine Scheiße. Ich kann hören, dass du da bist.“ Und nach einer längeren Pause. „Das ist mir jetzt echt zu blöd, so ein Scheiß. Hier sind die Schlüssel, mach damit, was du willst, ich brauche das Auto die Woche nicht und so lange brauchst du dich auch nicht melden. Melde dich, wenn du wieder alle Tassen im Schrank hast. Und übrigens: Luki hat mich gestern angerufen, er kommt nächste Woche zu Besuch, da sind Semesterferien. Er hat gefragt, ob wir alle zusammen mal essen gehen, aber klär du das. Vielleicht gehst du ja an die Tür, wenn unser Sohn davor steht. Keine Ahnung!“. Anne hört, wie Thorsten die Schlüssel auf den Boden wirft und geht. Anne ruft Ömer zurück und der sagt, dass er sich jetzt auf den Weg macht und dann in 20 Minuten unten auf sie wartet. Anne legt auf und starrt zwischen ihrem Handy und der Tür hin und her. Dann geht sie in den Flur, öffnet die Haustür und nimmt den Autoschlüssel. Scheiße, murmelt sie. Er hat recht, denkt Anne, ich bin wirklich albern. Sie hasst es, wenn ihr das jemand sagt, vor allem, wenn Männer das zu ihr sagen, vor allem, wenn Thorsten das sagt, dann kommt sie sich vor wie ein kleines Kind, das nicht ernst genommen wird, sondern gemaßregelt. Aber in dem Fall – anders als infantil kann sie ihr Verhalten leider auch nicht bezeichnen. Sie muss sich entschuldigen. Aber nicht jetzt. Luki. Warum hat er sie nicht angerufen. Sie muss ihn anrufen. Aber nicht jetzt.
Anne nimmt sich eine neue Tasche aus ihrem Schrank, stopft den noch auf der Arbeitsplatte verteilten Inhalt hinein, und läuft hinunter. Ömer wartet schon und streckt ihr die Hand hin. „Anne, schön, dass du doch angerufen hast, ich hab schon gedacht, Lulu hätte dich gestern direkt überfahren und dann ich auch noch hinterher.“ Anne lacht. „Im Grunde genommen war es auch so, aber trotzdem nicht unangenehm. Danke noch mal.“
Die Fahrt mit Ömer dauert zwar länger als erwartet, weil die Stadt um die Uhrzeit voller Autos ist, in denen Leute schnell noch die Kinder in die Kita und sich selbst zur Arbeit fahren, aber amüsant. Anne stellt fest, dass Ömer einer dieser Menschen ist, die einem in den paar Minuten, die man sie kennt, das Gefühl vermitteln, man würde sich seit Ewigkeiten kennen. Er erzählt von seiner Mutter und wie seltsam es für ihn war, als sie gestorben ist. „Nicht weil wir ein schlechtes Verhältnis miteinander hatten, im Gegenteil, wie standen uns sehr nah. Aber es war nicht nur die Trauer, weißt du, ich hatte das Gefühl, dass nun ich der nächste in der Reihe bin. Klingt das blöd?“, fragt er sie und wirft ihr einen schnellen Blick zu, bevor er sich wieder der Straße zuwendet. „Überhaupt nicht, finde ich. Eher nachvollziehbar. Ist ja auch so, wenn die Generation über einem dann wegbricht, sozusagen, dann wird der Staffelstab an uns weitergegeben. Einerseits denke ich mir dann, wieder so ein Moment, in dem es einem so deutlich vor Augen steht, dass man nicht mehr jung ist. Und andererseits: Seit wann hält sich der Tod an irgendeine Reihenfolge? Also, das sind eben Wahrscheinlichkeiten, die wir dann als natürlich wahrnehmen, aber im Grunde…“ Anne hält inne und lässt im Geiste die Menschen an sich vorbeiziehen, die „vor der Zeit“ gegangen sind. „Düstere Stimmung wollte ich jetzt nicht verbreiten.“, schiebt sie entschuldigend nach. „Nein, du hast ja Recht – und was wir daraus lernen ist doch, dass wir Zeit haben, niemand weiß wie viel und niemand weiß wie viel noch, aber wir nutzen sie ja. Ich hier mit dir, und du mit mir.“ Er lächelt ihr zu und Anne grinst zurück. „Ich wusste gar nicht, dass man schon um 8.30 Uhr am Morgen zu so einem Pathos fähig ist.“ „Jetzt mach dich nicht lustig, sonst steigt ich sofort aus.“, lacht Ömer. „Auf der Stadtautobahn? Und was dann?“ „Dann rezitiere ich noch mehr pathetisches, alles, was mir einfällt, dann werde ich aufgegriffen und aufs Revier zitiert – du übrigens auch, weil du ja nicht fahren kannst und einen Riesenstau verursachst tja, und da sitzen wir dann.“ „Das sollten wir besser nicht riskieren.“, lacht Anne. Sie zögert kurz und dann fragt sie: „Sag mal, Lulu hat ja gestern noch mal eine Sprachnachricht von deinem Handy geschickt…?“ „Ja, die war seltsam, oder? Ich bin ehrlich gesagt auch ziemlich neugierig geworden, aber ich wollte mich auch nicht einmischen. Weißt du, was sie damit meinte, mit den Schuhkartons?“, fragt Ömer nun Anne das, was sie eigentlich von ihm wissen wollte. „Nein, überhaupt nicht. In den Schrank habe ich noch gar nicht reingeguckt, so weit bin ich noch nicht gekommen. Deswegen wollte ich ja dich fragen, so als mentale Vorbereitung. Weißt du, ich wollte gar nichts von ihr haben, nichts, damit sie es nicht doch noch schafft, sich in mein Leben zu mogeln. Aber gestern habe ich jetzt sogar schon Bücher mitgenommen.“ „Bücher?“ „Ja, sie hat tolle Sachen gelesen, auch welche, die ich unbedingt haben wollte, eins muss sie gelesen haben, als sie gestorben ist, das ist von einer meiner Lieblingsautorinnen und ich wollte warten, bis es als Taschenbuch erscheint. Und jetzt hab ich es zu Hause.“ „Aber das ist doch vielleicht ganz gut oder? Also, es ist nicht erzwungen, sondern einfach etwas, das ihr offenbar geteilt habt, ohne es zu wissen. Ich finde, das klingt fast gesund sich seiner Familie so zu nähern, eben nicht, weil man das gleiche Blut hat und sich irgendwie verpflichtet ist oder sich mögen muss, sondern weil man wirklich ähnliche Interessen hat.“ „Du meinst, es ist gesünder sich mit seiner Familie auseinanderzusetzen, wenn die schon tot ist?“, fragt Anne und grinst. „Du weißt, was ich meine.“, lacht Ömer. „Aber ja, vielleicht auch so. Wenn es im Leben bei euch nicht ging, lern sie doch mal kennen, ohne dass ihr euch jetzt noch Rechenschaft ablegen müsst oder könnt. Und wenn du dich an die Schuhkartons machst, ruf mich sofort an und erzähl mir alles.“, schiebt Ömer nach. Anne nickt. „Nein, ehrlich, ich bin so neugierig, dass ich fast platze. So ein Geheimnis. Und deine Mutter scheint ja eh ein geheimnisvoller Mensch gewesen zu sein. Ich weiß nicht so viel, nur das bisschen von Lulu.“ Ein Ruck fährt durch Anne hindurch und sie setzt sich schräg auf ihren Sitz um Ömer so gerade wie möglich angucken zu können. „Du hast meine Mutter gekannt!“, ruft sie. Ömer blick schnell zu ihr und dann wieder auf die Straße, setzt den Blinker um die Ausfahrt zu nehmen. „Du kanntest sie, oder?“, fragt Anne noch einmal.

Julius-Leber-Brücke Januar 2019 Teil 4

Die Bücher liegen sperrig im Jutebeutel und ihre Kanten schlagen in unregelmäßigen Abständen in Annes Seite. Obwohl Anne Hardcover schon immer lieber gemocht hat, wahrscheinlich, weil sie dafür stehen, dass man ein Buch sofort haben kann, wenn es erscheint, wird ihr nun bewusst, dass ein Taschenbuch nicht ohne Grund so heißt und für sie im Grunde praktischer ist. Sie muss ein bisschen darüber lächeln. Die schlagen ihr wenigstens keine blauen Flecke in die Seite. Manchmal denkt man ewig, dass man bestimmte Dinge gerne hätte, nur um dann festzustellen, wie gut man es die ganze Zeit schon hatte. Kein schlechter Gedanke, um sich damit auf den Weg nach Hause zu machen, findet Anne, da hat sie schon weitaus schlechtere gehabt. Sie läuft in Richtung Bahn am Späti von heute morgen vorbei und blickt unwillkürlich durchs Fenster hinein. Da steht er, Ömer, erinnert sich Anne. Er hat die Unterarme auf den Tresen abgelegt und beugt sich weit hinüber. Er scheint im Gespräch, mit wem kann Anne nicht erkennen, da ihr die Sicht von einem Aufsteller, an dem vermutlich Nachos hängen, verdeckt wird. Sie verlangsamt ihren Schritt und stellt überrascht fest, dass er mit der Frau redet, die sie eben vom Balkon aus gesehen hat. Ömer lacht und sein Blick fällt auf Anne, die mit Schrecken feststellt, dass sie einfach stehen geblieben ist und es von innen sicher so aussieht als hätte sie versucht, sich hinter dem Nachoaufsteller zu verstecken. Was so falsch ja auch nicht ist, denkt Anne und hebt leicht ihren Arm und verzieht das Gesicht. Das gibt auf jeden Fall einen blauen Fleck, denkt sie und unterdrückt den Refelx sich über den schmerzenden Oberschenkel zu reiben. Ömer winkt sie hinein. „Anne, komm rein, komm rein.“, ruft er ihr entgegen, noch bevor sie die Tür ganz geöffnet hat. „Das ist Anne“, sagt Ömer, an die alte Frau im Pelz gewandt, „sie war heute den ganzen Tag bei Ihnen drüben.“ Die alte Frau kneift die Augen zusammen und sieht Anne an. Es ist ein sehr scharfer Blick und Anne beginnt sich ein bisschen unwohl zu fühlen. Mit nasser, leicht fischiger Tasche fühlt sie sich den Blicken dieser aus der Nähe umso beeindruckenderen Frau nicht recht gewachsen. „Entschuldigen Sie“, fängt Anne deswegen einen Satz an, wird aber von der etwas zu hohen Stimme der Frau unterbrochen. „Ach papperlapapp, keine Entschuldigungen. Wenn ein Mensch in ihrem Alter bei uns ist, arbeiten Sie entweder da, aber so sehen sie gar nicht aus, also als würden Sie gerne mit alten Menschen arbeiten, nicht böse gemeint, aber ich hab da Erfahrung, wenn ich das so sagen darf. Na, oder sie räumen eine Wohnung aus.“ Sie mustert Anne nochmals von oben bis unten. „Ja. Bin mir sicher. Sie sind ein Aufräumkommando. Da können sie den ja gut gebrauchen.“ Die Frau zieht eine kleine Flasche Vodka aus einer Seitentasche ihres Mantels und stellt ihn knallend, wie im Triumph auf den Tresen. Anne hat es nicht geschafft ihre Überraschung schnell genug zu kaschieren und starrt zwischen Vodka und der Frau und Ömer hin und her. Die Frau fängt an zu lachen. „Meine Liebe, tun Sie doch nicht so schockiert. Ömer ich und ich trinken jeden Tag um diese Uhrzeit. Das heißt, er trinkt seinen Tee und ich meinen Vodka, aber ich teile gerne und, nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich bin mal so frei: Sie sehen wirklich so aus, als würde der Ihnen gut bekommen. Sie sind ein wenig nass und, rieche ich Fisch? Zumal, sie hatten, wenn ich mit dem Aufräumkommando recht hatte, sicher keinen Tag wie auf der Kirmes.“ Anne nickt, schüttelt den Kopf. Die Frau sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Anne lässt Tasche und Beutel von den Schultern gleiten. „Gerne. Danke. Und das waren Garnelen, kein Fisch.“ Die alte Frau lacht und Ömer stellt drei kleine geschwungene Gläser auf den Tisch, füllt eines mit schwarzem Tee und zwei mit dem klaren Vodka. Obwohl in unregelmäßigen Abständen Leute in den Laden kommen, um sich etwas zu kaufen und sie auf Klappstühlen halb im Raum und halb hinter dem Tresen zwischen Schokoriegeln sitzen, hat Anne das Gefühl sie wäre bei guten Freunden zu Hause. Mittlerweile sind sie auf Tee umgestiegen und Ömer hat eine Packung Kekse geöffnet. Die Frau hat sich Anne sofort als Luise vorgestellt, aber gesagt, es würden sie eh alle Lulu nennen. Lulu erzählt, dass sie ihr ganzes Leben in Berlin verbracht hat und davon, dass sie nun als letzte ihrer Familie übrig geblieben ist. Sie sagt es mit einem Schulterzucken, und Anne ist taktvoll genug nicht gleich zu viel zu fragen. Obwohl sie das Gefühl hat, sie könnte der alten Frau mit dem leicht zittrigen, kohlschwarzen Lidstrich stundenlang zuhören könnte. „Haben Sie schon mal daran gedacht ein Buch zu schreiben?“, fragt Anne unvermittelt und Lulu lacht laut. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. „Dass hat deine Mutter mich auch immer gefragt.“ Anne versteinert. „Du siehst ihr sehr ähnlich, aber wenn ich das alles hier richtig einschätze, wirst du dir die Fotos sicher nicht angesehen haben, oder?“ „Woher…?“, setzt Anne an, aber Lulu unterbricht sie. „Ich bin keine Hellseherin oder sowas, nein nein, obwohl ich manche Dinge ganz sicher im Urin habe, das kann ich dir versichern. Frau Hufschmied, die Leiterin, wenn man das so nennt, die mit den langen Falten an den Wangen, wie dieser Mann aus dem Fernsehen, der früher mal ein Popstar war. Wie hieß der?“ „Dieter Bohlen“, antwortet Anne, die bei den Wangen von Frau Hufschmied auch an ihn denken musste. „Genau! Also das sind die Wangen von Menschen mit Ehrgeiz, nicht so nette Menschen, aber sie wissen, was sie wollen – sowas hab ich im Urin, wie dem auch sei. Frau Hufschmied hatte mich gebeten, die gerahmten Fotos, die überall in der Wohnung von Marie standen, wegzuräumen. Ich habe das natürlich nicht kommentiert oder nachgefragt, dass versteht sich von selbst. Das ist eine Frage der Contenance. Na und von Marie hab ich ja von dir gewusst und auch, dass ihr nicht gesprochen habt. Nun gut, und der Rest ist ja nu keine Raketenwissenschaft.“ Lulu hebt ihr Glas an den Mund und schlürft mit gespitzten Lippen ihren Tee, ohne dabei Anne aus den Augen zu lassen. Anne schluckt schwer, aus irgendeinen Grund hat sie heute nichts so schwer getroffen, wie der Name ihrer Mutter aus Lulus Mund. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass sie ihre Mutter nie mit diesem Namen angeredet hat, als Kind nicht und später hat sie, in den seltenen Fällen, in denen sie über ihre Mutter gesprochen hat, von „meiner Mutter“ geredet. Der Name schmerzt sie und Anne weiß, dass sie länger darüber nachdenken wird, wieso. Albern, denkt Anne und versucht das Gefühl von sich abzuschütteln. Ohne Erfolg. Sie kann Lulu und Ömer nicht angucken und fühlt sich nackt. Sie guckt auf den Boden, überlegt kurz, ob sie einfach ihre Tasche nehmen und gehen soll. Sie will einfach nur nach Hause in ihr Bett. „Lulu“, sagt Ömer in vorwurfsvollem Ton, „dass du auch immer gleich mit der Tür ins Haus musst! Redest hier von Contenance und dann sowas, ehrlich.“ Lulu will etwas einwerfen, aber Ömer lässt sie nicht zu Wort kommen und wendet sich stattdessen an Anne. „Bitte entschuldige Anne, an Lulu muss man sich erst gewöhnen, sie ist, denke ich, die Berliner Schnauze als Person. So im Ganzen eben.“ Er legt ihr eine Hand auf die Schulter und Anne muss lächeln. „Ich, also, es ist nur komisch, wisst ihr. Niemand außer euch weiß überhaupt, dass ich jetzt ihr Zimmer ausräume und es weiß auch keiner, dass sie gestorben ist. Mein Vater ist schon tot und ich hab es meinen Kindern noch nicht gesagt. Ich weiß selbst nicht genau weshalb. Keinem meiner Freunde. Ich hab mir von meinem besten Freund ein Auto geliehen, für den Transport, und das ist echt bescheuert, weil ich ihm gesagt habe, dass ich nur das Auto brauche und nicht seine Hilfe. Dabei habe ich nicht mal einen Führerschein. Er wäre einfach zu fürsorglich, wisst ihr, was ich meine. Dann würde ich es nicht schaffen.“ Anne hält kurz inne und Lulu winkt mit einer neuen kleinen Flasche Vodka. Anne nickt. „Aber nur einen noch. Ich wollte sie einfach nicht sehen, wisst ihr. Ich wollte auch gar nicht kommen, am Anfang. Deswegen habe ich Frau Hufnagel gebeten die Fotos zu entfernen.“ Anne leert ihr Glas in einem Zug. „Du musst dich gar nicht rechtfertigen, meine Liebe, jeder braucht, was er braucht.“, sagt Lulu und nippt an ihrem Glas. „Euch beiden würden die Ohren schlackern, wenn ihr wüsstet, was ich im Leben alles schon gebraucht habe!“, sagt sie und lacht. Anne steht auf und macht sich daran ihren Mantel überzuziehen. „Ich hoffe, du gehst jetzt nicht, weil ich dir so auf die Pelle gerückt bin, meine Liebe.“, sagt Lulu und Anne schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin nur wahnsinnig müde und muss ins Bett. Morgen geht es ja weiter für mich – und für das Auto.“ „Da kann ich helfen – also wenn du magst.“, sagt Ömer. „Dann müsstest du es erstmal keinem erzählen, naja, und in die gleiche Richtung müssten wir ja auch.“ „Das ist nett, aber das kommt mir zu viel verlangt vor.“, antwortet Anne, während sie sich den Jutebeutel über die Schulter wirft. „Sag einfach Bescheid.“, sagt Ömer „Ich geb dir meine Nummer, dann kannst du dich einfach melden, falls du es dir anders überlegen solltest.“ Anne gibt ihm ihr Telefon und er tippt. „Danke.“, sagt sie und wendet sich zur Tür. „Ehrlich, danke, es war ein seltsamer Abend, aber ein schöner.“ Lulu hebt ihr Glas in ihre Richtung. „Ich freue mich, dass wir uns nun kennen, meine Liebe! Komm gut nach Hause.“ Anne winkt noch einmal durch die Scheibe und macht sich auf den Weg zur Bahn. In ihrer Tasche spürt sie die Vibration ihres Handys und zieht es heraus. Es ist eine Sprachnachricht von Ömer. Anne runzelt die Stirn und öffnet die Nachricht. Man hört erst Ömers stimme, leise, wie von weiter weg: „Hier, den Finger so draufhalten. Du musst jetzt was sagen, Lulu.“ „Meine Liebe, hier spricht Lulu, na, das wirst du ja hören, ich hatte vergessen: Morgen, wenn du in der Wohnung bist, sieh doch mal im Schrank im Schlafzimmer in die Schuhkartons. Keine Fotos, versprochen. Und nun lass ich dich in Ruhe. Ende Lulu.“ Anne starrt auf ihr Handy. Was für eine Nachricht. Genau wie der Tag heute, denkt Anne und dass sie schnell nach Hause sollte, bevor noch mehr absonderliches passiert. Aber, und das muss sie schon zugeben, findet sie, es war auch ein guter Tag, besser, viel besser als erwartet, wenn auch auf eine unerwartete Weise.

Januar 2019 – Julius-Leber-Brücke Teil 3

Anne streicht sich mit dem Unterarm eine Strähne ihrer Haare aus dem Gesicht und richtet sich mit einem leisen Stöhnen wieder auf. Sie steht breitbeinig über einer Umzugskiste, in die sie die Bücher ihrer Mutter stapelt. Sie hat sich vorgenommen die Kisten nur halbvoll zu machen, damit sie sie auch wirklich alleine tragen kann. Aber die Kiste zwischen ihren Beinen ist nun schon fast ganz gefüllt. Anne ist häufig umgezogen und hält sich selbst für ziemlich packerfahren. Und trotzdem werden die Bücherkisten immer zu schwer. Neben Anne liegt ein kleiner Stapel Bücher, bei denen sie es nicht übers Herz gebracht hat, sie in die Kisten zu tun. Ihre Mutter hat, was Bücher angeht, einen wirklich guten Geschmack bewiesen, daran war leider kein Zweifel. Anne ist darüber mehr erschüttert als über die Fotoalben, die sie, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen in die großen, blauen Müllsäcke geworfen hat. Als würde sie in den Büchern eine Verwandtschaft mit ihrer Mutter entdecken, die sie längst für nichtig erklärt hat. Nicht diese erzwungene Art der Verwandtschaft, die mit Familien einhergeht, die man sich nun mal nicht aussuchen kann, sondern eine Art geistiger Verwandtschaft, die sich in all den Titeln, die sich zu Annes Füßen stapeln, manifestiert. Hier liegt Zadie Smith, unter Joanna Bators gesammeltem Werk. Hannah Arendt, auf Valeria Luiselli und den Krimis von Fred Vargas. Auch ein paar deutschsprachige Schriftstellerinnen sind dabei. Karen Köhler, Judith Herrmann, natürlich Ingeborg Bachmann, Herta Müller. Insgesamt sehr viele Frauen, aber natürlich auch Männer. Aber nicht so viele, wie Anne sonst in den Bücherregalen ihrer Freunde und Bekannten findet. Hätte Anne nur diese Wohnung betreten, ohne zu wissen, wer hier wohnte, hätte sie sich sehr gefreut, diese Frau kennenzulernen.
Anne stämmt die Hände in die Hüften und atmet laut aus, lässt den Blick durch den Raum schweifen, der nun leerer und voller zugleich wirkt, obwohl ja noch die gleiche Menge an Zeug darin ist, nur umverteilt. Der Schrank im Flur ist schon leer und davor stapeln sich die Mülltüten, prall gefüllt mit Bettwäsche und Laken. Die wird Anne in einen Container werfen. Kurz hat sie darüber nachgedacht, ob sie sich für einen Samstag einen Stand auf dem Flohmarkt mietet. Da könnte sie alles verkaufen und noch ein bisschen Geld machen. Aber vielleicht würde sie, ganz wahrscheinlich würde sie aber natürlich doch nicht alles verkaufen, und dann müsste sie wieder alles packen und doch noch wegfahren. Nein, so viel Zeit will sie nicht dafür opfern und für das bisschen Geld lohnt es sich ja kaum.
Aber sie müsste die Schränke und den Tisch, das Bett, all die großen Möbel, die muss sie loswerden. Daran hat sie gar nicht gedacht. Irgendwie hat sie angenommen, dass die Möbel dem Heim gehören würden, aber ihre Mutter hat alles selbst mitgebracht und gewohnt, wie in einer normalen Mietwohnung. Ziemlich gute Lösung, stellt Anne fest und wird sich das merken. Noch ist es ja nicht soweit, aber besser sich früher darüber Gedanken machen, als zu spät. Sie wollte jedenfalls nicht in einem anonymen Zimmer leben, in dem man sich fühlt als sei man nur Gast, oder schlimmer noch, als wäre man auf einem Wartegleis, von dem der Zug nur noch in eine Richtung abfährt. So ein Blödsinn, denkt Anne und schüttelt den Kopf, als ob der Zug jemals in eine andere Richtung fahren würde. Das denkt man vielleicht, wenn man jünger ist oder man denkt eben gar nicht drüber nach, aber dass es für alle in Richtung Ende geht, ist von Anfang an klar. Anne schwingt ihr rechtes Bein über die Kiste und streckt sich. Es ist Zeit für eine Pause. In diese Endzeitstimmung wollte sie sich nicht versetzen. Erstes Anzeichen dafür, dass sie eine Zigarette braucht. Und einen Kaffee und am besten auch etwas zu essen. Sie geht hinter den kleinen Tresen und stellt sich an die Küchenzeile. Gut, es ist eine Nespressomaschine. Ja, die Umwelt, das stimmt natürlich, für die sind diese kleinen Kapseln doof, aber jetzt ist sie perfekt. Sie sucht nach den Kapseln, zieht eine Schublade nach der anderen auf, sieht in die Schränke. Sie findet Espressopulver, aber keine Kapseln. Etwas ratlos zieht sie nochmal alle Schubladen auf und findet, beim Besteck, eine kleine, leere Kapsel. Zum Nachfüllen! Anne lächelt und freut sich. Ihr kommt es so vor, als hätte ihre Mutter ihr eine Freude gemacht. Als würde sie jetzt hinter ihr stehen, ein Brötchen schmieren und ganz nebenbei, über die Schulter, sagen: „Das mit dem Nachfüllen war eine gute Idee von dir, Anne. Jetzt kann ich endlich meine Kaffee wieder ohne schlechtes Gewissen genießen.“ Und dann würde sie ein bisschen lachen.
Anne drückt wütend den Hebel von der Maschine hinunter, der dafür sorgt, dass die Kapsel richtig sitzt. Ein bisschen zu doll. Sie würde jetzt gerne etwas werfen und überlegt für einen Augenblick ob sie nicht einfach alle Teller zerschmeißen sollte. Aber das wäre natürlich zu laut und dann würde jemand kommen und sie in einem Scherbenhaufen sitzen sehen, naja, und das ist schon ein sprechendes Bild. „Haben sie auch manchmal das Gefühl, ihr Leben wäre ein großer Scherbenhaufen?“ fragt Anne sich laut, mit der Stimme einer Kartenleserin von AstroTV. „Rufen Sie einfach an, und Ihre Sterne werden Ihnen den Weg zu einem intergalaktischen Kehrbesen weisen.“ Anne zieht die Tasse aus der Maschine, geht zum Kühlschrank und gießt einen Schluck Milch in den Kaffee. Sie sieht immer gerne dabei zu, wie sie sich erst in dunklen Wolken darin ausbreitet und dann als kleiner, weißer Fleck an die Oberfläche stößt. Annes Blick fällt auf ein kleines Küchenradio und sie schaltet es ein. Vielleicht kann sie dann aufhören, mit sich zu reden, überlegt sie und stattdessen mitsingen, wenn ihr danach ist. Anne läuft zum Balkon, klopft auf ihre Hosentasche. Keine Zigaretten. Dafür der kleine Anhänger. Sie geht zur Tür, neben der sie ihre Tasche abgelegt hat und auf dem kurzen Weg dorthin, der vier oder fünf Schritte dauert, fällt es ihr ein. Sie atmet scharf ein, beschleunigt, obwohl sie längst weiß, dass es keinen Sinn mehr hat. Die Garnelen! Anne reißt ihre Tasche auf und dann ist ihr als würde die letzte Kraft aus ihr hinausfallen. Mit einem Ruck, wie Wasser als einer zerplatzten Wasserbombe. Anne sieht hinein in ihre Tasche, der Geruch von Fisch und Salz steigt ihr in die Nase. Tropfen fallen platschend auf den Boden. Anne kniet sich hin und zieht eine nasse Packung Zigaretten aus der Tasche. Sie ist eingeschweißt. „Ha!“, entfährt es Anne. „So schnell kriegst du mich nicht!“ Sie weiß nicht, wen sie damit meinte. Niemand bestimmtes, alle, alles. Anne nimmt ihre Tasche an den Henkeln, geht durch den Raum, schüttet den Inhalt auf die Küchenzeile. Alles, was nicht zu retten ist, wirft sie in einen der großen Müllsäcke, darin ist sie jetzt geübt und den Rest lässt sie zum Trocknen draußen liegen.
Anne steht auf dem Balkon, in der einen Hand die Zigarette und in der anderen ihren Kaffee. Sie beobachtet eine ältere Frau, die langsam die Straße entlangläuft. Es wird dunkel und Anne kneift die Augen leicht zusammen, um die Frau besser sehen zu können. Sie trägt einen Pelzmantel, in dem sie fast zu verschwinden scheint. Anne stellt sich vor, dass sie unter dem Mantel sicherlich sehr zierlich ist, ein wenig dürr. Sie sieht, trotz ihres Alters und ihrer Gebrechlichkeit fast mondän aus. Anne überlegt wie alt sie wohl sein wird. Achtzig vielleicht. Dann wäre sie im Krieg geboren. Noch vor ihrer Mutter.
Anne zieht ihr Handy aus ihrer hinteren Hosentasche. Sie ruft Thorsten nun doch an. Ohne Auto geht es nicht. Er fragt, ob sie Hilfe brauche, aber sie verneint. Sie hat ihm erzählt, sie würde ihren Keller ausmisten und zur BSR fahren, warum weiß sie nicht genau. Er würde sofort zu ihr fahren, wenn sie ihm die Wahrheit erzählt hätte, würde sie in den Arm nehmen und ihr übers Haar streichen. Er würde sie trösten wollen.
Anne beschließt für heute Schluss zu machen, schreibt sich noch eine Notiz in ihr Handy, dass sie morgen gleich, solange noch die Sonne scheint, die Möbel fotografieren muss, damit sie sie bei Ebay reinstellen kann. Zu verschenken, für Selbstabholer. Dann wird sie sicher alles schnell loswerden.
Als sie die Tür hinter sich zuziehen möchte, fällt ihr Blick auf den Bücherstapel am Boden. Die könnte sie gleich mitnehmen, beschließt sie. Sie holt einen Jutebeutel aus der Küche, stapelt die Bücher hinein und macht sich auf den Heimweg.

Fortsetzung folgt…

Januar 2019 – Julius-Leber-Brücke Teil 2

Anne wird von einer Frau, die sich ihr als Frau Hufschmied vorgestellt hat, zum Zimmer ihrer Mutter geführt. Vor der Zimmertür angekommen, überreicht sie Anne einen Schlüssel, sagt, dass sie sich Zeit lassen könne, weil sie das Zimmer erst in einer Woche streichen müssen und verabschiedet sich. Sie läuft den mit Teppich ausgelegten Korridor hinunter und Anne sieht ihr mit geöffnetem Mund hinterher, so als würde sie ihr noch eine Frage hinterherrufen wollen, aber ihr fällt keine ein, nichts, dass sie noch länger davon abhalten könnte, das Zimmer zu betreten. Anne steht vor der Tür, unentschlossen, ob sie eintreten soll. Sie fühlt sich als würde sie etwas Verbotenes tun. So wie man sich fühlt, wenn man bei entfernten Bekannten eingeladen ist und im Badezimmer alle Schränke öffnet, um zu entdecken, welche Pflegeprodukte dort zu finden sind. Sie ist ein bisschen ärgerlich darüber, dass ihre Mutter nicht einfach testamentarisch verfügt hat, was mit ihren Sachen passieren soll und es ihr überlassen hat, darüber zu entscheiden. Gut, dann wird sie eben auch entscheiden und alles weggeben, beschließt Anne und die leise Wut in ihr, gibt ihr die Kraft, den Schlüssel in das Schloss zu stecken und die Zimmertür zu öffnen.
Das Zimmer ist hell, schön, muss Anne zugeben. Helle, leicht transparente Vorhänge, die bis auf den Boden fallen, vermitteln den Eindruck man wäre in einem südlichen Land und könnte auf eine Terrasse hinaustreten, die in einen grünleuchtenden Garten führt. Eine offene Küchenzeile, vor der ein großer, dunkler Holztisch steht, auf dem Blumen in einer lachsfarbenen Vase ihre Köpfe hängen lassen. Dem Tisch gegenüber steht ein großes Ecksofa. Über den Eckplatz, der zum Sitzen und Liegen gleichermaßen einläd, ragt eine Stehlampe mit einem elegant gebogenen Ständer. Sie würde sich hier wohl fühlen, schießt es Anne in den Kopf und wieder findet sie es seltsam, wie häufig man etwas denkt, dass man ungern zugeben möchte. Nicht mal vor sich selbst.
Ein winziger Flur, der rechts hinter der Küchenzeile abgeht, führt ins Badezimmer. In die Flurwände sind Wandschränke eingelassen, in denen Anne Handtücher und Bettlaken ausmacht. Sie läuft zurück ins Wohnzimmer und von dort aus geradeaus weiter, in das Schlafzimmer. Die Tür ist geschlossen und Anne wiedersteht dem Drang, an die Tür zu klopfen. Sie öffnet die Tür einen Spalt breit und sieht hinein. Ein großes Bett und ein Schrank. Eine kleine Kommode neben dem Bett, auf der eine Lampe steht und, wie ein letzter Gruß, ein Buch liegt. Es liegt aufgeschlagen und umgedreht, so als hätte ihre Mutter es kurz beiseitegelegt, um ans Telefon zu gehen oder sich einen Tee zu machen. So, als hätte sie es gleich wieder aufnehmen wollen. Und wahrscheinlich wollte sie das auch. Anne tritt ins Zimmer, noch in tropfendem Mantel und Schuhen und geht hinüber zum Nachttisch. Sie blickt hinunter auf das Cover. Es ist der neueste Roman von Joanna Bator, stellt Anne überrascht fest. Ein Buch, das sie sich schon länger lesen wollte, aber noch darauf gewartet hat, dass es als Taschenbuch erscheint. Hier liegt das Hardcover. 24,95, sagt ihr das Preisschild. Vorsichtig hebt Anne das Buch an. Es ist trotz des langen Liegens noch steif und knarzt auf diese spezielle Weise. Ein leises Knacken, das einem Leser verrät, dass man es mit einem Buch zu tun hat, das erst kürzlich aus der Schutzfolie befreit wurde. Unwillkürlich riecht Anne daran. Aber das Buch hat den Geruch neuer Bücher bereits verloren. Die leichte Schärfe ist verflogen und es verströmt fast keinen Geruch mehr.
Anne hatte sich fest vorgenommen, dass sie nichts aus der Wohnung ihrer Mutter mit zu sich bringen würde. Sie war so lange kein Teil ihres Lebens gewesen, hatte weder ihre Schulzeit, noch ihre Hochzeit, die Geburt ihrer Kinder oder ihre Scheidung miterlebt. Anne würde ihr nicht erlauben, sich nun, nach dem Ende sozusagen, wieder in ihr Leben zu pressen. Sie wollte keine Fotos, keine Kleidung, Möbel oder sonst etwas. Aber dieses Buch, das hätte sie schon gerne. Sie fragt sich, ob sie irgendwann vergessen würde, dass es ihrer Mutter gehörte. Es war ja kein Erbstück wie ein Tisch, der einem eine Geschichte erzählt. Im Grunde könnte ihr nichts in der Wohnung eine Geschichte erzählen, an der sie teilhaben könnte. Sie hatte nie als Kind immer hinter genau diesen Vorhängen verstecken gespielt oder sich hinter diesem Sofa verkrochen, wenn gruselige Filme im Fernsehen liefen, noch konnte sie sich an genau diese Lieblingstasse erinnern, aus der ihre Mutter immer ihren Kaffee am Morgen getrunken hatte. Sie konnte sich an nichts erinnern. An ein paar verschwommene Bilder vielleicht, von denen sie aber nicht wusste, ob sie der Wirklichkeit entsprachen, oder ob sie sie vielleicht nur geträumt hatte. Einige waren sicherlich echt, so alltäglich wie sie waren. Die Hinterköpfe ihrer Eltern, im Auto ihres Vaters. Vielleicht waren sie in Urlaub gefahren oder nur zu Besuch zu Bekannten, das wusste Anne nicht mehr. Sie erinnert sich daran, dass ihre Mutter sie abends ins Bett gebracht hat, und sie sich im Badezimmer immer das Oberteil ihres Schlafanzuges ausziehen musste, weil ihre Mutter darauf bestand, dass man sich vor dem Schlafen gehen Gesicht und Oberkörper wusch. Der Lappen war immer etwas rauh und ihre Mutter ein bisschen grob. Nicht absichtlich, aber manche Menschen haben kein Gefühl dafür, wie sich ein Waschlappen in Kindergesichtern anfühlt. Anne hatte sehr viel später, als sie ihre eigenen Kinder kämmen und waschen musste, selbst festgestellt, dass es eine spezielle Form der Empathie und des Zartgefühls erfordert hier nicht zu fest zu rubbeln oder in den Haaren zu ziepen.
Andere Erinnerungen waren merkwürdig, sodass Anne sich nicht sicher war, ob diese Moment erlebt oder geträumt hatte. Einmal, es muss spät am Abend gewesen sein, vielleicht auch in der Nacht, hat Annes Mutter sie leise geweckt, mit dem Finger an den Lippen, um Anne zu bedeuten, dass sie leise bleiben solle. In den Augen ihrer Mutter hatte es gefunkelt, und Anne erinnert sich, dass sie ein bisschen Angst vor ihr hatte. Ihre Mutter sagte, dass sie ihr ein Geheimnis zeigen wolle, und öffnete eine kleine Schachtel, die sie aus der Tasche ihres Kleides gezogen hatte. Anne erinnert sich, dass sie Schachtel klein war, aber mit so zartem, blauen Samt ausgelegt, dass schon die Schachtel, ohne ihren weit imposanteren Inhalt ausgereicht hätte, Anne in Staunen zu versetzen.
In der Mitte der Schachtel, in einen schmalen Schlitz im Samt geschoben, lag ein Ring. Ein so wunderschöner Ring, wie Anne ihn nie zuvor gesehen hatte. Ein großer, blauer Stein, mindestens so groß wie einer der Nägel ihrer Mutter, eingerahmt von funkelnden, weißen Steinen. „Hast du je etwas so Schönes gesehen, kleine Anne?“, flüsterte ihr Mutter aufgeregt. Sie zog den Ring aus der Schachtel und streifte den Ring über den Finger, sodass er ihren Ehering verdeckte, steckte den Arm aus um ihre Hand aus der Ferne zu betrachten. Anne schüttelte immer noch ihren Kopf. Dann flüsterte sie: „Ist das ein Schatz, Mama?“ Ihre Mutter sah eine Sekunde verwirrt zu ihr auf. Dann begann sie zu nicken. „Ja, ja, kleine Anne, das ist ein Schatz, ein wertvoller Schatz. Von ihm dürfen wir niemandem erzählen, nicht mal Papa. Hast du das verstanden?“ Ihr Mutter blickte ihr in die Augen und Anne verstand sofort, mit dem untrüglichen Gespür, das Kinder für essentielle Situationen haben, dass das eine ernste Angelegenheit war. Anne nickte feierlich und legte ihre Hand über die ihrer Mutter, über den Ring. „Ich werde niemandem etwas verraten. Großes Indianerehrenwort.“
Ihre Mutter schien von Annes Antwort überzeugt und lächelte ihr zu.
Anne hat oft über diese Erinnerung nachgedacht. Nie hat sie jemandem davon erzählt, als Kind nicht und als Erwachsene noch weniger. Sie hatte recherchiert. Einen solchen Ring hätte sich ihre Mutter niemals leisten können. Sie arbeite als Sekretärin für den Chef einer Brauerei, und das war damals eine gute Arbeit, aber wahrscheinlich hätte es den Lohn eines Jahres gekostet, solch einen Ring zu kaufen. Niemand, den Anne kannte, hätte ein solches Schmuckstück kaufen können.
Viel später, lange nachdem ihre Mutter gegangen war, hat Anne, mittlerweile selbst längst erwachsen, begonnen nachzuforschen. Sie hatte sich ein Wenig mit Edelsteinen beschäftigt, und ist zu dem Schluss gekommen, dass das, was sie gesehen hat, ein großer Saphir, eingerahmt von mehreren brilliantgeschliffenen Diamanten auf einem Weißgoldring, war. Natürlich war das reine Spekulation, und sie konnte sich irren. Aber wenn nicht, hatte ihre Mutter einen Ring im Wert von ca. 20.000 Euro besessen. Wenn dem wirklich so war, kann Anne nur zu gut verstehen, warum das ein Geheimnis bleiben sollte. Hatte ihre Mutter einen heimlichen, vermögenden Verehrer? Oder war sie vielleicht sogar kriminell? Hatte sie den Ring gestohlen? Anne würde es wohl nie erfahren.
Anne steht im Wohnzimmer und dreht sich um ihre eigene Achse. Sie sucht den Raum nach Kisten und Mülltüten ab, die sie vom Seniorenheim erbeten hatte. Seltsam, dass ihr der Ring gerade jetzt wieder in den Sinn kommt, denkt Anne. Manche Dinge möchte man fast schmerzlich gerne in Erinnerung behalten, versucht sie als Bilder oder Gerüche für immer ins eigene Gedächtnis zu brennen und andere Dinge, die man längst vergessen glaubte oder vergessen wollte, tauchen immer wieder auf und fordern ihr Recht auf Erinnerung ein.

Fortsetzung folgt

Januar 2019 – Julius-Leber-Brücke Teil 1

Anne sitzt in der S-Bahn und starrt aus dem Fenster. Vor ihr verwirbeln weiße Flocken und sie fühlt sich wie das Auge eines Orkans, in dessen Mitte sie sitzt und sieht und hört und riecht, aber seltsamer Weise nichts spürt.
Es ist kurz vor 11, und die Bahn für einen Montag ungewöhnlich leer. Es liegt wohl an der Uhrzeit. Die meisten Menschen sitzen schon längst im Büro und fiebern der Mittagspause entgegen. Was es heute wohl in der Kantine gibt, fragt sich Anne und hofft, dass sie nicht einen der seltenen Käsespätzle Montage verpasst. Gleich darauf schämt sie sich. Warum kann sie nicht sagen. Ihre Vernunft flüstert ihr ins Ohr, dass es nichts gibt, wofür sie sich schämen bräuchte. Erstens reagieren alle Menschen unterschiedlich in so einer Situation und zweitens, noch viel wichtiger, ist es ja nicht so als hätte sie viel Kontakt zu ihr gehabt. Etwas tief in Anne, auf das ihre Vernunft offenbar wenig Einfluss hat, beharrt leise darauf, dass man an dem Tag, an dem man die Wohnung seiner verstorbenen Mutter ausräumt, nicht daran denken sollte, dass man hoffentlich nicht vor Käse triefende Nudeln verpasst. Pietätlos schließt es Anne in den Kopf. Aber was an dieser ganzen Scheiße hat je irgendwas mit Pietät zu tun gehabt, fragt sie sich bitter.
Anne springt plötzlich auf und schafft es gerade noch aus der Bahn zu springen. Wie kann man die ganze Zeit aus dem Fenster gucken und trotzdem nichts sehen. Gut, dass sie keinen Führerschein hat, denkt sich Anne, die weiß, dass heute einer dieser Tage ist, an denen man sich und andere durch bloße körperliche Anwesenheit in Gefahr bringt.

Kurz hatte sie gestern darüber nachgedacht Thorsten anzurufen und ihn um Hilfe zu bitten. Er hat ein großes Auto und sie müsste nicht so viel schleppen. Es wäre einfacher gewesen. Anne hatte lange auf das Handy in ihrer Hand hinuntergeschaut, die Kontakte bereits geöffnet, aber sich nicht überwinden können, ihn anzurufen. Es wäre ja auch sehr kurzfristig und noch dazu gleich an einem Montag. Er hätte krankmachen müssen. Das kann man eigentlich nicht verlangen. Sie hatte ihr Handy auf das Sofa geworfen und sich wieder zum Fenster gedreht, vor dem auch gestern die Schneeflocken herabrieselten. Ruhiger als heute, fast anmutig, waren sie zu Boden geschwebt. Sie hatte ihren Kopf, der seltsam heiß war, an die kühle Scheibe gelehnt und laut mit sich gesprochen: So eine Scheiße, Anne. Du willst doch gar kein Auto brauchen. Lass einfach alles da. Oder spende es.
Die Scheibe wurde feucht von ihrem Atem und wie zur eigenen Unterstützung hat sie ein Ausrufezeichen in den beschlagenen Kreis an ihrem Fenster geschrieben. Wenn sie schon nicht wirklich schreien konnte, musste sie sich auf diese Weise Mut machen.

Anne schaut nach links und rechts und sucht den Treppenaufgang, der sie hinauf auf die Straße führt. Sie zieht beim Laufen ihr Telefon aus der Tasche und kontrolliert bei Google Maps, ob sie auch richtig läuft. Sie war nie vorher hier. Sie hatte die Benachrichtigung ihrer Mutter erhalten, dass sie in ein Seniorenheim gezogen war, wusste auch wo. Sie hatte es sich im Internet angesehen. Nichts besonderes, aber auch nicht übel, ein bisschen eintönig vielleicht, aber solide. Sie weiß nicht einmal mehr, warum sie es sich überhaupt angeschaut hatte. Es war wohl die Neugierde. Anne zieht sich die Mütze über den Kopf und steigt die Stufen hinauf. Es sind 26. Auf der Straße angekommen, sieht sie, dass direkt neben ihr ein Asia Supermarkt ist und beschließt noch schnell ein paar Garnelen zu kaufen. Bei dem Wetter werden sie kalt bleiben, bis sie wieder nach Hause kommt.
Ein paar Minuten später tritt Anne wieder auf die Straße hinaus. Es will einfach nicht aufhören zu schneien, denkt Anne und widersteht dem Drang die Zunge auszustrecken und den Kopf in den Nacken zu legen, um eine Flocke zu fangen. Sie braucht noch Zigaretten, fällt ihr ein. Sie wird sicher den ganzen Tag in dieser Wohnung verbringen. Letztes Jahr hatte Anne eigentlich aufgehört zu rauchen und nur noch manchmal, an besonderen Anlässen, gönnt sie sich eine Zigarette. Anne überlegt, ob die Wohnung der toten Mutter ausräumen unter „besonderer Anlass“ fällt und entscheidet sich für ein eindeutiges Ja. Sie geht in einen Späti.
„Einmal die blauen Nil, bitte.“, sagt sie.
Der Mann hinter dem Tresen dreht sich um und fischt eine Packung aus dem Regal. „Ist das alles?“, fragt er.
„Oh, ich brauche auch ein Feuerzeug.“, fällt Anne ein und sie beginnt in ihrer Tasche nach dem Geldbeutel zu kramen. Die Garnelen fallen heraus und reißen beim Herunterfallen Süßigkeiten aus dem Regal unter dem Tresen. Eine bunte Mischung Schokoriegel liegt vor Annes Füßen. Anne bückt sich, stößt dabei selbst gegen das Regal und hätte beinahe noch mehr Süßigkeiten hinuntergeworfen. Sie entschuldigt sich und beginnt die Schokoriegel wieder in ihre Fächer zu sortieren.
„Ist schon gut. Kein Problem. Ich helfe Ihnen.“
Der Mann kommt hinter dem Tresen hervor und kniet sich neben Anne.
„Kein guter Tag heute?“, fragt er sie.
Anne schüttelt den Kopf und bemerkt ärgerlich, dass sie einen Kloß im Hals hat.
„Ich“, beginnt sie den Satz und hält dann inne. „Meine Mutter ist gestorben und ich muss ihr Zimmer ausräumen.“, sagt sie.
„Das tut mir sehr leid. Ich kann mir vorstellen, dass das wirklich ein schwerer Tag für Sie sein muss. Hier, Ihre Garnelen. Nehmen Sie die Zigaretten und warten Sie – hier ist ein Feuerzeug. Nein, Nein. Kein Geld.“, winkt der Mann ab als Anne einen Schein aus dem Portemonnaie zieht.
Anne bedankt sich und ist schon halb auf dem Weg zur Tür als sie wieder umkehrt.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich kann es nicht annehmen. Ich kannte meine Mutter fast gar nicht. Ich mochte sie auch nicht, habe nicht mit ihr geredet, wissen Sie. Keinen Brief aufgemacht. Damals ist sie weggegangen. Ohne uns. Und jetzt ist sie tot. Ich sollte keine Zigaretten umsonst bekommen.“ Anne merkt wie ihr die Tränen in die Augen schießen und sie kramt wieder nach ihrem Geldbeutel.
„Wie heißen Sie?“, fragt der Mann.
„Anne.“, antwortet Anne etwas verwundert.
„Ich bin Ömer.“, antwortet der Mann und streckt ihr eine Hand entgegen, die Anne schüttelt.
„Anne, bitte nehmen Sie die Zigaretten. Sie haben einen schweren Tag und ich würde ihn für Sie gerne ein bisschen angenehmer machen. Wenn Sie heute die Wohnung ausräumen müssen, egal wie es nun zwischen Ihnen und Ihrer Mutter war, dann hilft es vielleicht mal eine Rauchpause zu machen.“
Anne lächelt ihn an.
„Danke Ömer, ich danke Ihnen.“
„Und nehmen Sie noch das. Das kann nie schaden.“
Er gibt ihr einen kleinen Schlüsselanhänger, ein blauer Tropfen, innen ein schwarzer Punkt und dann ein weißer und ein hellblauer Kreis darum herum. Wie ein Auge.
„Was ist das?“, fragt Anne.
„Es heißt nazar boncuğu und beschützt Sie. Eigentlich vor dem bösen Blick. Aber heute ist es Ihr Talisman.“
Anne nimmt den kleinen Anhänger und nickt ihm zu. Das kann nicht schaden, denkt sie und fühlt sich besser.
„Danke, bis bald.“, sagt Anne. Jetzt wird sie es schaffen, denkt Anne. Manchmal sind es die Dinge, mit denen man nicht gerechnet hat und die nun warm in ihrer Hand liegen, die einem Kraft geben. Schon komisch, denkt Anne und hält den kleinen blauen Tropfen aus Glas fest in ihrer Hand bis sie in dem Seniorenheim angekommen ist. Dann steckt sie in ihn in die linke vordere Tasche ihrer Hose, damit sie ihn nicht wie alles andere in den Untiefen ihrer Handtasche verliert und nicht lange danach suchen muss, falls sie ihn gerne halten möchte.

Fortsetzung folgt

November 2016 – Seestraße

Die Bäume haben ihre letzten Blätter abgeworfen und orangefarben leuchtend wälzen sich die Kehrmaschinen durch den dicken Nebel, der heute die Kreuzung zu verschlingen scheint. Nele läuft in ihren Wintermantel gehüllt die Straße hinunter und kann den Blick nicht von den Nebelschlieren abwenden. Sie sind so dick, dass es sie fast wundert, dass man so mühelos hindurchlaufen kann. Würden die Menschen hindurch schwimmen, sich mit kräftigen Zügen ihrer Arme, über dem Boden schwebend fortbewegen, käme ihr das angemessener vor. Wie alles, das die Stadt verschleiert, ähnlich dem ersten Schnee hat auch der Nebel etwas gnädiges, denkt sie, auch wenn er düsterer ist.
Als sie noch ein Kind war, hat sie mit ihrer Freundin in Geheimsprache geredet. Sie haben alle Wörter rückwärts aufgesagt. Das war nicht einfach. Sie haben mit ihren Namen angefangen: Elen und Enna, das war noch nicht schwer gewesen, aber für richtige Sätze haben sie lange gebraucht. Sie haben das sehr gewissenhaft verfolgt und sich sogar Vokabelheft angeschafft, in die sie gemeinsam erst die wichtigen, häufig benutzen Worte links in der herkömmlichen Schreibweise aufgelistet haben und rechts in die passende Spalte alles rückwärts eingetragen haben. Die Worte mussten auswendig gelernt werden. In regelmäßigen Abständen haben sie sich gegenseitig abgefragt. Auch wenn sie keinen Kontakt mehr zu Anne hat, hat sie sich die Angewohnheit bewahrt, Worte rückwärts auszusprechen, wenn auch nicht laut, sondern nur für sich. Viel später, als sie schon längst erwachsen und schon mitten im Studium war, hat sich Nele gefragt, ob dieses Kindheitsspiel dafür verantwortlich sein könnte, dass sie häufig das Gefühl hat, in einer verkehrten Welt zu leben. Die Antwort darauf ist sie sich bis heute schuldig geblieben.
Kurz vor der Bäckerei bleibt Nele stehen. Sie dreht den Nebel im Kopf um, und dass ihr dabei, das Leben in den Sinn springt, scheint ihr heute morgen bedeutsam zu sein. Sie würde gerne Anne anrufen, weil sie so eine schöne Umkehrung gerne mit ihr teilen würde, aber sie hat nicht mal mehr ihre Nummer. Nele schüttelt ihren Kopf, und beschließt, sich beim Bäcker heute ausnahmsweise noch einen zweiten Kaffe zu kaufen. Sie scheint noch nicht ganz wach zu sein, und vielleicht ist auch der Nebel daran Schuld, aber Koffein wird es richten. Sie hat heute einen wichtigen Termin, muss eine Werbestrategie pitchen und da muss sie konzentriert sein. Und professionell.
Nele arbeitet noch nicht lange in der Agentur und hat immer noch das Gefühl, sich beweisen zu müssen. Dieser Pitch ist ihre Möglichkeit, nicht nur dem Kunden, sondern auch ihren Kollegen zu zeigen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben, Nele einzustellen.
Wenn man nett ist, denken die Leute oft, dass man dumm wäre oder sie einen einfach übergehen könnten. Das ärgert Nele, die im Grunde gerne ein netter Mensch ist, es aber auch satt hat, dafür milde belächelt zu werden. Für diesen Job hat sie sich vorgenommen, dass damit nun Schluss ist. Sie wird zwar höflich sein, das will sie nicht aufgeben, aber sie wird sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen. Um so wichtiger, dass sie heute einen überzeugenden Auftritt hinlegt.
Zu Hause hat sie mit einer Freundin geübt.
„Gibt mir dein Intro.“, hat die sie aufgefordert und Nele hat sie nur etwas ratlos angesehen. „Stell dich vor.“, hat ihre Freundin lachend gesagt.
„Ah ok, gut. Hallo. Ich bin Nele und kümmere mich bei Aeronauten um die Social Media Strategien.“ Schon hier hat sie ihre Freundin unterbrochen.
„Du bist doch da nicht das Hausmädchen, Nele, das sich kümmert. Du bist die Social Media Strategin. So sagst du das denen auch. Gleich von Anfang an. Und dann erzählst du ein bisschen von deinen Stationen und dass du Social Media machst, seit dem es das gibt. Klein wollen einen eh die meisten machen, das brauchst du also nicht selber zu tun.“ Das ist hängengeblieben, Nele hat es sich sogar in ihr Heft geschrieben, schwarz auf weiß. Zur Sicherheit hat sie heute morgen ihr Heft in die Manteltasche geschoben, als könnte sie die mit Tinte geschriebenen Wörter durch die Berührung ihrer Finger in sich hineinsaugen. Und dann würden sie durch ihre Blutbahnen wabern und in jede Faser ihres Körpers übergehen. So wie sie früher, vor dem Abi ihre Lernblöcke unter ihr Kopfkissen geschoben hat, in der Hoffnung, dass ihr Gehirn sich gut merkt, worauf es schläft. An anderen Tagen würde Nele ihren Hang zu solchen abergläubischen Verfahren belächeln, aber nicht heute. Heute nimmt sie alles, was ihr Kraft gibt, oder geben könnte, sehr ernst. Sie hat auch ihre Kette umgelegt. Ihre Glückskette. Es ist eine goldene, dünne Kette, an der eine eingefasste Münze hängt. Die Münze hat früher ihrer Oma gehört, die sie an einer längeren Kette trug, so dass die Münze zwischen ihre großen Brüste gedrückt wurde und manchmal, wenn ihre Oma sich über den Tisch beugte, herausfiel und mit einem hellen Ton gegen Kaffeetassen schlug. Anfangs hat ihre Oma die Kette betrachtet wie andere Leute vielleicht ihren Sparstrumpf betrachten, als Sicherheit für schlechte Zeiten, die man am besten immer bei sich trägt. Später hat Nele ihre Oma aber häufig dabei beobachtet, wie die nach ihrer Münze griff, sie fest drückte und das waren andächtige kleine Momente gewesen, die Nele fast wie ein Stoßgebet empfunden hat.
Nele steht immer noch vor dem Bäcker. Ihre Hand fährt hinauf zu ihrer Kette, aber Mantel und Schal versperren den Weg. Also drückt Nele nur sacht auf ihren Mantel, dort wo sie die Kette spürt und nimmt beruhigt die harte Wärme der Goldmünze auf ihrem Brustkorb wahr.
Sie öffnet die Tür zur Bäckerei und warme, duftende Lust prallt ihr entgegen.
„Du hast heute aber lange draußen gestanden.“, ruft Anton ihr entgegen. Nele lächelt.
„Ja. Heute steh ich noch bisschen neben mir.“, antwortet sie.
„Ich glaube ja, dass das am Nebel liegt.“, sagt Anton. „Da sind alle immer seltsam drauf.“ Anton greift in die Auslage um Nele ihr obligatorisches Rosinenbrötchen in eine Tüte zu packen.
„Kannst du mir noch einen Cappuccino zum Mitnehmen machen?“, fragt Nele.
„Na klar.“
Anton dreht sich zu der Kaffeemaschine und gießt Milch in eine kleine Edelstahlkanne. Mit dem Rücken zu Nele, redet er weiter.
„Wusstest du, dass Leben rückwärts Nebel heißt?“, fragt er sie. Neles Mund steht offen und kurz fragt sie sich, ob sie vorhin laut mit sich geredet hat, obwohl das auch nicht erklären würde, wie Anton plötzlich darauf kommt. Er hätte sie ja gar nicht hören können. Sie nickt, aber das sieht er nicht. „Das würde doch erklären, warum alle so verwirrt sind, oder?“ Anton lacht und dreht sich zu ihr. Nele lacht mit ihm. „Genau das habe ich eben, als ich vor der Tür stand, auch gedacht.“, sagt sie.
„Ist doch gut, dann wissen zumindest wir beide Bescheid.“, antwortet Anton und stellt Nele ihren Becher auf die Theke.

Februar 2001 – Masurenstraße

Thomas sitzt im Bett, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Er hat sich seine Decke in den Rücken gestopft, damit er es etwas bequemer hat, aber dafür ist ihm nun ein wenig kühl an den Beinen. Er überlegt sich eine zweite Decke aus dem Wohnzimmer zu holen. Das überlegt er schon seit einiger Zeit, aber er kann sich nicht aufraffen. Das ist mein Problem, denkt er. Immer das gleiche. Zu viel denken, zu wenig machen.
Aber wenn er daran denkt, dass er jetzt aufstehen muss, und er kann einfach nicht anders als über alles, egal wie unwichtig es ist, erstmal gründlich nachzudenken. Sich vorzustellen, wie dieser Weg für ihn jetzt aussehen würde: die Treppe vom Hochbett runter, in den kalten Flur, ohne Socken. Seine Fußsohlen würden noch kälter werden, als sie es eh schon sind. Und er muss vorsichtig sein. Seine Mitbewohnerin könnte da sein, und ihr will er unter gar keinen Umständen begegnen. Nicht, dass sie nicht eine tolle Mitbewohnerin wäre. Susa ist super. Sie ist sogar mehr als das. Aber sie hat immer so gute Laune. Ständig. Sogar direkt nach dem Aufstehen. Das kann er sich jetzt nicht antun. So ein fröhliches Winken und im schlimmsten Fall sogar eine Guten-Morgen-Umarmung.
Thomas ist krank. Nicht so schlimm krank, das weiß er. Er war nicht mal beim Arzt, aber es geht ihm nicht gut. Sein Kopf dröhnt, er hat ein Kratzen im Hals und ist total schlapp. Und weil er krank ist, war er auch nicht duschen. Das macht er nie. Von dem Tag, an dem man krank wird, bis zum Tag der am Horizont erscheinenden Genesung, darf man nicht duschen. Einmal wäre er dabei fast kollabiert. Und die Vorstellung seine Mitbewohnerin könnte ihn halbohnmächtig und in sich zusammengesunken in der Dusche finden, jagt ihm einen schrecklichen Schauer über den Rücken. Eine Umarmung ist also völlig undenkbar. Er riecht schon ein bisschen, stellt er fest, als er versucht seine Nase unter die Achsel zu schieben. Das klappt nicht, also zerrt er an dem Stoff seines Shirts und zieht ihn unter die Nase. Für fünf Tage aber nicht schlimm, befindet er. Und dann lässt er die Schultern sinken. Legt den Kopf in die Hände und atmet laut aus.
Vielleicht bin ich winterdepressiv, denkt er sich. Das könnte gut sein. Das sind ja viele Leute. Aber die gehen wahrscheinlich trotzdem zur Arbeit. Thomas schiebt sich an der Decke hinunter bis er wieder auf dem Rücken liegt, starrt an die Decke. Dann richtet er sich ruckartig auf und dreht sich um, schlägt einmal in die Decke, so fest wie er kann. Er knüllt sie zusammen, reißt an ihr, schlägt auf sie ein. Er atmet laut und ihm laufen die Tränen übers Gesicht. Es ist so lächerlich, denkt er. Und dann tut es aber doch ganz gut. Er drückt das Gesicht in die Decke und würde gerne hineinschreien, so laut er kann. Aber das traut er sich nicht, vielleicht ist Susa da und dann würde sie ihn hören, dann käme sie in sein Zimmer und dann würde sie ihn fragen, was los ist. Und wenn er dann ihr Gesicht sehen würde, wie sich ihre Augenbrauen leicht zusammenziehen, wie sie es immer machen, wenn sie ganz aufmerksam ist. Leute, die sie nicht kennen, denken dann, dass sie böse wäre, aber Thomas weiß, dass das nur ihr Konzentrationsgesicht ist. Sie würde einen Hauch von ihrem Geruch mit in sein Zimmer wehen, mit dem Schwung der sich öffnenden Tür.
Am Montag ist Thomas nach Hause gekommen und hat davor groß eingekauft, alles für eine Lasagne, und eine Tüte Nachos, weil Susa Nachos liebt. Er wollte sie fragen, ob sie sich einen Film zusammen ansehen. Und als er die Tür aufgeschlossen hat, hat er sofort in die Wohnung hineingeredet, nach ihr gerufen und ihr von dem seltsamen Kerl vor Penny erzählt, der gruseliger Weise immer da ist. Thomas hat am Montag das Geheimnis gelüftet und sich dabei fast zu Tode erschreckt. Der seltsame Mann hat einen Zwilling. Einen Zwilling, wiederholt Thomas und schreit es durch die Wohnung. Susas Tür ist aufgegangen und da ist ein Mann herausgekommen. Ein großer, blonder Mann, und sein Hemd war offen. Thomas hat seinen Bauch gesehen und seine Brust und konnte kurz nicht atmen vor Schreck. Er hat nur da gestanden. „Hi, ich bin Yannik“, hat der Mann gesagt und Thomas hat gedacht, dass das ein Scheißname ist und nur Scheißtypen so heißen, hat aber nur gesagt: „Hi, Thomas.“ Normalerweise hätte er seine Hand hingestreckt, aber das wollte er nicht. Susa ist hinterhergekommen und hat nur gesagt: „Wir gehen ins Kino, hab einen schönen Abend.“
Und dann ist Thomas krank geworden. Und ist nicht mehr zur Arbeit gegangen und auch nicht unter die Dusche und Susa hat er auch nicht mehr gesehen. Es klopft an der Tür und Thomas hebt sein Gesicht aus der Decke.
„Thomas? Ist alles in Ordnung?“, fragt Susa durch die Tür, aber Thomas antwortet nicht. Er hört wie die Tür aufgeht. „Thomas, was ist los? Ich weiß, dass du da bist. Ich mach mir langsam Sorgen!“
Thomas räuspert sich. „Alles gut. Ich bin nur krank.“
„Und seit wann redest du nicht mehr mit mir wenn du krank bist?“, fragt Susa von unten und er braucht sie nicht zu sehen um zu wissen, dass ihre Augenbrauen zusammengerückt sind.
„Ich, ich, also es geht mir eben nicht so gut.“, sagt er und weiß, dass ihr diese Antwort nicht reichen wird.
„Thomas, ich komm jetzt hoch. Es ist doch irgendwas!“ Er hört das Knarren der Dielen und zieht sich die Decke bis ans Kinn. Will etwas sagen, will NEIN schreien, aber sein Hals ist rau und es kommt kein Ton heraus. Er guckt nach unten auf das Muster seiner Decke und schämt sich, die Luft hier ist sicher schlecht.
„Guckst du mich jetzt auch nicht mehr an? Was ist denn los verdammt?“ Thomas hört den Zorn in ihrer Stimme und sieht zu ihr.
„Hast du geweint? Ist was passiert?“, sie setzt sich auf seine Matratze.
Er schüttelt den Kopf. „Es ist nicht so schlimm, ich bin nur krank und habe Kopfschmerzen. Ich habe nicht geduscht. Mach dir keine Sorgen“, versucht er sie noch einmal abzulenken. Er lächelt sie an so gut es geht. „Erzähl mir lieber von dir. Wie war es mit diesem Yannik, war es schön? Wie ist er so?“
Sie zieht ihre Augenbrauen noch ein Stück näher zusammen. Sieht ihn eine Weile an.
„Yannik ist sehr nett. Der Film war toll. Und er ist außerdem der Freund meiner Schwester.“ Sie sieht ihn weiter an. Hat bemerkt, wie er seine Augenbrauen bei Freund meiner Schwester nach oben gesprungen sind. Ja! Sie hat ihm das sogar mal gesagt, jetzt erinnert er sich. Er fühlt sich unwohl, wie sie hier so sitzt und ihn ansieht. So, als würde sie alles sehen. Er weiß, sie sieht alles, das ist bei ihr immer so.
„Ich, ach so, ja, also schön. Das ist toll“, stammelt Thomas.
„Geht es dir jetzt besser vielleicht?“, fragt Susa mit diesem Blick. Thomas sieht auf die Bettdecke und nickt.
Sie beugt sich vor und gibt ihm einen Kuss. Thomas Herz schlägt, es tut fast weh und er überlegt ob er nun doch kollabiert, hier in seinem Bett.
„Ich schlage vor, du gehst duschen und dann machen wir eine Lasagne?“, fragt Susa und lächelt.

Januar 2006 – Budapester Straße

Martin startet den Motor und in der Kälte seines Autos sieht er seinen Atem in kleinen Wölkchen vor seinem Mund. Er dreht die Heizung voll auf, obwohl er weiß, dass sie nicht richtig funktioniert. Vielleicht wirkt es ja trotzdem, zumindest so placebomäßig. Oder sie schaltet sich doch überraschend wieder ein. Manchmal passieren ja seltsame Dinge. Wer weiß und man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben.
Normalerweise liebt er den Weg zur Arbeit. Nicht, weil er besonders gerne arbeitet. Es ist nur so, dass Martin einfach immer arbeitet. Egal, ob es ein Feiertag ist oder Nacht oder Wochenende. So viel, dass der Weg dorthin seine Form der Freizeit ist. Meistens holt er sich einen Kaffe und freut sich auf Radio und ein sauberes Auto. Seine Jacke zieht er aus, um sie auf den Beifahrersitz zu legen. Manchmal geht er extra ein paar Minuten früher los, damit er einfach eine Weile im Auto sitzen kann und aus dem Fenster schauen.
Normalerweise denkt er dann an gar nichts, sondern sieht einfach nur den Menschen zu wie sie die Straße hinunterlaufen oder Hunden, wie sie an Bäume pinkeln. Manchmal sieht er auch Vögel, aber eher selten. Mal abgesehen von Tauben und Krähen. Die sind für ihn aber keine Vögel, warum weiß er gar nicht. Fliegen können die ja auch, aber eben nicht singen. Im Prinzip ist es ihm also egal was er sieht, er will eigentlich nur dasitzen.
Seit ein paar Tagen funktioniert das alles nicht mehr und er gibt Silvester die Schuld, zumindest hat diese Denkerei damit angefangen. Gut, es ist auch der Geburtstag, wahrscheinlich der noch viel mehr. Er wird nächste Woche dreißig und wenn er so daran denkt, was er bisher gemacht hat, fällt ihm nichts wesentliches ein. Mal für den einen gearbeitet und dann für einen anderen. Mal mit solchen Leuten und mal mit solchen. Es waren auch viele nette dabei, das schon, aber wenn man eh keine Zeit hat mal jemanden zu sehen, dann verläuft das auch im Sande.
Früher, als er noch so richtig viel arbeiten musste, kurz nach der Ausbildung, da ist er wenigstens noch dünn gewesen. Wer so viel steht und läuft, sechzehn Stunden am Tag, der hat auch einfach keine Zeit zum Essen. Und wenn, dann wird es gleich wieder abtrainiert.
Jetzt sitzt er im Auto und muss nicht mal an sich herab sehen um zu wissen, dass der Bauch vom Anschnaller so eingedrückt wird, dass sich eine Wulst darüber stülpt. Mist, denkt er und dann lässt er sie Schultern sinken. Schielt zu seinem CaramelCappuccino und beschließt ab jetzt den Kaffe schwarz zu trinken.
Er weiß es ist irgendwie albern, so eine große Sache daraus zu machen, dass er dieses Jahr dreißig wird, aber es ist so wie es an Silvester auch ist. Man lässt die vergangene Zeit an sich vorbeilaufen und zieht seine Schlüsse. Auf der Habenseite ist ein guter Job, er hat sich hochgearbeitet und ist jetzt der Chef. Er muss zwar noch lange arbeiten, aber nicht mehr so hart. Er hat ein Auto, das gut fährt, wenn man von der Heizung absieht und ein bisschen Geld auf der Seite – und einen ziemlichen Bauch, ja, der ist definitiv auch auf der Habenseite. Tja, und auf der WasIchGerneHätteSeite… Er rutscht auf dem Fahrersitz hin und her und vielleicht sollte er besser nicht jetzt darüber nach denken. Das macht doch eh schlechte Laune und dann muss bloß wieder einer von den Trotteln unten in der Küche was falsch machen und er weiß, dann flippt er aus. Das will er eigentlich nicht mehr. Wenn die aber auch auf dreckigen Tellern anrichten, wie soll man da anders reagieren. Manchmal fällt ihm echt nichts mehr ein. Wie soll man den jemandem, der offensichtlich nicht das mindeste klitzekleinste Gefühl für Ästhetik auf dem Teller hat, so was beibringen. Manchmal stellt er den Teller dann vor den Koch und fragt: Also wenn du da draußen sitzen würdest und du hast hundertachtzig Euro gezahlt für das Essen und dieser Teller kommt, würdest du dann denken: Ahhhh! Oder würdest du denken: oooohhhh…?! Aber dann guckt er meistens in verwirrte Augen und dann wird er doch wieder wütend. Das sollte er ändern! Dringend ändern. Außerdem hätte Martin gerne ein Hobby. Keine Ahnung welches. Martin weiß schon lange nicht mehr, was er tun würde wenn er Zeit hätte. Traurig, denkt er, echt traurig. Nur Arbeit zu sein, der ewig Angestellte. Wenn er jetzt sterben würde, dann würden sie auf seinen Grabstein schreiben: „Er hat sich stets bemüht.“ Er sollte dringend irgendwo festhalten, dass er verbrannt werden möchte. Und dann bloß nicht auf so einen Urnenfriedhof, wo man in so Schuhschachteln gestopft wird. Obwohl, das passt ja vielleicht. Was ist los mit mir?, schießt es ihm durch den Kopf. Dieser Geburtstag macht mich völlig fertig.
Er biegt in das Parkhaus des Hotels ein und stellt sich auf seinen Parkplatz. Er stellt den Motor ab, zieht den Schlüssel, kann sich aber nicht entschließen, sich abzuschnallen oder aufzustehen. Aus seiner Jacke holt er einen Stift und kramt im Handschuhfach nach einem Zettel. Was ich mir wünsche, schreibt er oben drauf und darunter, die ganz ehrliche Liste, und aus sinnfreien Gründen schreibt er auch noch geheim darunter, als wäre er zehn Jahre alt und hätte Angst seine Eltern könnten die Liste finden. Er schreibt: – Ich will ein Hobby. – Ich will mehr Zeit. – Ich will ok Geld. – Ich will eine Freundin. Er zögert einen Moment liest sich noch mal alles durch und streicht dann alles wieder weg. Schreibt neu: – Ich will einen anderen Job mit normalen Arbeitszeiten. – Ich will eine Familie. – Ich will ein Hobby. Mehr schreibt er nicht. Aber wenn er sich seine drei ehrlichen, geheimen Wünsche ansieht, kann er nur den Kopf schütteln. Er ist bald dreißig und Meilen entfernt. Von allem.
Er steigt aus, zieht seine Jacke an, und läuft zügig Richtung Fahrstuhl. In der Küche sagt er niemandem „Guten Morgen“ und geht sofort in sein Büro. Schleudert den Kaffeebecher wütend in den Mülleimer, sodass ein kleiner Rest Kaffee rausspritzt und braune Flecken auf dem Teppich hinterlässt. Sonst würde Martin sofort einen Lappen holen. Heute grinst er böse und denkt, geschieht ihm Recht. Das macht keinen Sinn, aber etwas anderes denken kann er auch nicht.
Es klopft an seiner Tür. „WAS?!“, brüllt er. „Ihr habt beschissenen Frühdienst. Ehrlich. Was kann also beim Eierkochen schief gehen?“, ruft er und reißt die Tür auf. Sein Mund steht noch offen und seine Augen sind aufgerissen.
„Entschuldigung, ich bin Sandy, vom Sales Marketing. Ich bin noch nicht so lange hier und wollte eigentlich… wegen dem Jubiläumsdinner und dem Menü. Aber ich kann auch später kommen?“, sie sieht ihn an und obwohl sie sich offensichtlich erschreckt hat, ist sie nicht eingeschüchtert.
„Scheiße, Entschuldigung, ich bin Martin, Martin Kluge. Komm doch bitte rein. Setz dich.“ Eigentlich wollte er ihr nur kurz so etwas sagen wie: Ich hatte heute einen echt schlechten Tag und dann erzählt er ihr von Silvester und das alles damit angefangen hat und dass er dreißig wird, und irgendwie total panisch wird und dass sie jetzt all seinen Kram abbekommen hat. Er hört sich reden und erkennt sich selbst kaum. Hör auf, denkt er. Kein Wunder, dass du keine Frau hast. Warum hörst du nicht endlich auf zu reden. Aber wie sie so vor ihm sitzt, zuhört. Noch gar keine Fragen stellt, mal nickt und die meiste Zeit den Kopf nur leicht nach links kippt. Er sieht sie und redet und irgendwie ist es gut. Als er endlich nichts mehr zu sagen hat, redet sie.
„Was willst du denn machen? Weißt du das schon?“
Martin runzelt verwirrt die Stirn. „Wie meinst du denn das? Was machen?“
„Na, wie willst du deinen Geburtstag denn feiern?“, fragt sie, den Kopf immer noch leicht nach links gelehnt.
„Ich…, er zögert, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Keine Ahnung.“
„Wenn du es weißt, und dann ist es auch egal was du machst, Bar oder Club oder zu Hause, dann wäre ich gerne dabei. Wenn du mich einlädst natürlich nur.“, sie grinst und schiebt ihm ihre Karte über den Tisch. „Wegen dem Dinner komme ich wann anders“, sagt sie und steht auf. In der Tür dreht sie sich noch mal zu ihm um und sagt: „Also ich freue mich jetzt schon richtig auf deinen Geburtstag“ und dann geht sie.
Martin hat das Gefühl, dass sein Mund die letzten fünf Minuten permanent offen gestanden haben muss und er will ihn schließen. Erleichtert stellt er fest, dass er schon zu ist. Ein Glück, dann hab ich nur halb so blöd ausgesehen, wie ich denke. Aber diese, ja wie lange wird sie hier gewesen sein? Zehn Minuten, eine halbe Stunde? Martin weiß es nicht. Diese kleine Weile jedenfalls hat gereicht, damit er sich nicht mehr ganz so viele Meilen fern fühlt von seinen Wünschen. Zumindest ist die Wut weg und er muss zugeben, dass er sich jetzt auch ein bisschen freut, auf nächste Woche.

Dezember 2015 – Dahlem Dorf

Sie steht im mit großen, weißen Steinplatten gefliesten Vorraum. Es ist noch ein paar Minuten zu früh, die Glastür öffnet sich noch nicht und Fiona beginnt ihre Runden zu drehen. Dabei sieht sie auf den Boden und achtet darauf, dass ihre Füße die Linien zwischen den Steinen nicht berühren. Das hat sie als Kind auf der Straße gemacht, es war ein Spiel bei dem schlimmes drohte, wenn man doch aus Versehen, oder weil die kurzen Beine für so große Schritte noch nicht ausreichten die Fugen berührte. Jeden Tag eine Schicksalsfrage, die von heute aus betrachtet wenig schicksalshaftes an sich hatte. Obwohl Fiona sich doch wundert, warum sie sich schon so früh, von selbst, diesem Druck ausgesetzt hat, das Schicksal an körperliche Fähigkeiten zu binden. Und gleichzeitig mit dieser naiven Erwartung, es würde Folge leisten. Sie denkt daran, dass sie sich auch beim Schwimmenlernen immer vorgestellt hat, Krokodile wären hinter ihr her, um ja nicht aufzugeben, bevor man das sichere Ende des Schwimmbeckens erreicht hat. Sie macht einen kleinen Schritt und winkelt ihren Fuß stark nach rechts an, der letzte Stein ist klein und viereckig, der Fuß passt nur diagonal darauf. Eigentlich hat sich nicht so viel verändert, denkt Fiona und blickt hinüber zur Glastür, über der nun ein kleines Lämpchen grün leuchtet. Die Ziele sind andere geworden, die Vorsätze und angedrohten Strafen bleiben, nur nicht mehr wirklich an eine höhere Macht gebunden, eher an eine Art Selbstdisziplin. Jeden Morgen muss man um 09.00 Uhr in der Unibibliothek sein, ohne vorher eine zu rauchen. Die kann man sich dann gönnen, wenn man bis 11.00 Uhr gelesen hat. Bei einem Kaffee. In der ersten Pause. Ursprünglich waren es drei Stunden, aber sie musste klein beigeben vor sich selbst, weil sie sich einfach nicht länger als zwei Stunden wirklich konzentrieren kann. Sie gibt der Luft in der Bibliothek die Schuld. Dieser trockenen Wärme, die ihr das Gefühl gibt, ihre Haut wäre Pergament und könnte bei der kleinsten Berührung unter ihren Händen zerfallen. Hat man nicht auch eine Zeit lang auf Häuten geschrieben?, fragt sie sich und dreht das linke Bein weit über den diagonalen rechten Fuß und lässt den linken Fuß auf den nächsten Stein in Richtung Tür fallen. Jetzt muss ich es auch zu Ende bringen, dann wird heute ein guter Bibliothekstag, denkt Fiona und schüttelt leicht den Kopf über ihren Einfall. Weil sie ihn aber schon gedacht hat, traut sie sich nun auch nicht mehr, es nicht richtig zu Ende zu bringen. Als wäre das ein schlechtes Zeichen.

Mit einem leisen schabenden Geräusch fährt die Glastür vor ihr auseinander und Fiona geht links herum, auf der Suche nach einem Spind. Um die Zeit ist es noch sehr leicht. Noch ein Grund, warum man direkt morgens anfangen sollte zu arbeiten. Sie dreht leicht den Kopf und schaut durch ihren Pony hindurch zum Tresen, an dem die Angestellten sitzen. Sie ist da. Das ist noch ein Grund, denkt Fiona und dass das ein wirklich heimlicher Gedanke ist, den sie fast nicht einmal sich selbst anvertraut hat. Sie ist immer morgens da. Und sieht nie müde aus. Immer sind ihre Wangen leicht gerötet und Fiona glaubt deswegen, dass sie mit dem Fahrrad kommt. Noch schneit es nicht, es könnte also gut sein. Fiona selbst fährt nicht mehr Fahrrad, ihre Hände werden dann blau und ihre Lippen, an schlimmen Tagen sogar ihre Nase und unter der Jacke ist sie völlig verschwitzt, weil sie einfach nicht langsam fahrradfahren kann. Es gibt nur Vollgas, schießt es ihr in den Kopf und sie wundert sich, woher sie so einen Satz hat. Er klingt gar nicht nach ihr. Sie räumt ihre Bücher und ihren Laptop aus ihrem Rucksack und stapelt sie neben sich auf dem grauen Teppich, der kratzig aussieht. Dann erst zieht sie Jacke und Schal aus und wirft alles in den Spind. Ihr Herz klopft, und sie atmet noch einmal tief ein und aus und steht dann mit dem Arbeitsstapel in der Hand etwas ruckartig auf und läuft in Richtung Tresen um sich eins von diesen roten Körbchen zu holen, wie es sie auch im Supermarkt gibt, um ihre Bücher besser tragen zu können. Sie lächelt der Frau am Empfang zu und die hebt leicht die Hand, deutet ein Winken an. „Schreibst du eine Hausarbeit?“, fragt diese Fiona über den Tresen hinweg. Eigentlich wirft Fiona ihre Bücher immer einfach in den Korb, aber nun entscheidet sie, sie einzeln und geordnet hineinzulegen. „Ja. Bachelorarbeit ist erst in zwei Semestern dran, wenn alles so läuft wie ich denke.“ „Was studierst du denn?“ „Literaturwissenschaften. Studierst du auch hier? Ich habe dich sonst hier am Campus noch gar nicht gesehen.“, sagt Fiona und ihr Gesicht wird warm. Warum habe ich nicht einfach meine Klappe gehalten, schilt sie sich in Gedanken. Die Frau am Empfang legt ihren Kopf ein wenig schief und sieht Fiona so durchdringend an, dass Fiona weiß, dass sie jeden kleinen Unterton in ihrem Satz genau begriffen hat. Und dann lächelt sie. „Ja, ich studiere auch, aber nicht hier an dem Campus. Ich bin immer hinten raus, noch drei Stationen mit dem Bus. Warst du schon mal da? Ist ziemlich schön. Jedenfalls nicht so viereckig und glasig wie hier. Hier fühle ich mich oft wie ein Fisch im Aquarium zwischen den Büchern rumschwimmen.“ „Schönes Bild“ sagt Fiona und wird wieder warm im Gesicht. Was rede ich denn? Die Frau lacht und Fiona redet schnell. „Naja, also ich muss dann jetzt mal, sonst komm ich zu nichts. Ich bin übrigens Fiona.“ sagt Fiona und fühlt sich forsch und draufgängerisch. Ein bisschen lächerlich auch, aber das gehört vielleicht ja zusammen. „Ja klar, mach mal. Ich bin Jana. Wir sehen uns ja jetzt häufiger. Viel Erfolg.“

Fiona dankt und lächelt und geht mit so geradem Rücken wie möglich am Tresen vorbei, ganz ans andere Ende der Bibliothek, in den zweiten Stock; da hat sie ihren Platz. Sie sagt, es ist ihr Platz, obwohl hier natürlich niemandem etwas gehört, aber sie sitzt am liebsten hier. Man blickt auf drei große, sich im Wind wiegende Pappeln und ein mit Kies bedecktes Flachdach. Das ist gerade genug Bewegung um den Gedanken noch zu halten, den man eben hatte. Und genug Ruhe um auch als kleine Pause kurz einfach nichts zu denken und nur hinauszuschauen. Außerdem fühlt es sich hier, hinter den letzten Bücherregalen angenehm nach Versteck an. Fiona beugt sich über ihr Buch und liest ein Kapitel, macht sich Notizen und schreibt auf, in welchen anderen Büchern sie nachlesen muss. Flaubert, schreibt sie, Madame Bovary. Und: Wohin verschwindet das Wir am Anfang? Nach einer Stunde steht sie auf und streckt sich, spürt dem angenehmen Knacken in ihrer Wirbelsäule nach und geht in die Französischabteilung. Sucht zwischen den französischen und englischen Ausgaben die deutsche. Da, Diogenes einwandfrei zu erkennender Buchrücken. Diogenesbücher im Regal sehen immer billig aus, findet sie, dafür sind die Cover schön. Ob Diogenes im Verlag andere Regale konzipiert hat, fragt sie sich, damit man auch die Bücher unterscheiden kann, so auf den ersten Blick? Sie blättert an den Anfang und hält inne. Dann dreht sie sich um und stellt das Buch hinter sich, in ein anderes Regal und geht zum Tresen.

„Hey! Na? Was kann ich für dich tun?“, fragt Jana sie. „Ich suche ein Buch. Madame Bovary. Im Regal, in dem das stehen soll, finde ich aber nur die englische und französische Ausgabe. Die Diogenesausgabe ist irgendwie weg. Ist sie ausgeliehen?“ „Warte mal kurz.“, sagt Jana und tippt auf ihrer Tastatur, blickt auf den Bildschirm und eine kleine Falte läuft senkrecht von ihrer linken Augenbraue in Richtung Stirn. „Nein, also ausgeliehen ist das nicht. Schon lange nicht mehr. Vielleicht liegt sie hier irgendwo“, sagt Jana und läuft an den Regalen hinter dem Tresen entlang. „Nein, tut mir Leid, dann musst du einen Suchschein ausfüllen und morgen noch mal zu mir kommen. Wenn es gefunden wurde, dann geb ich es dir. Sonst müssten wir es bestellen, aber abwarten.“ „Ok, super, dann mache ich das.“, sagt Fiona und füllt den Schein aus, den Jana ihr gereicht hat. „Wie lange musst du denn heute noch?“, fragt Jana. „Naja, so lange wie es geht, aber meistens gehe ich allerspätestens um vier wieder. Dann ist mein Hirn eh nur noch Matsch.“ Jana lacht. „Das kenne ich. Naja, ich dachte, falls du ein bisschen Ablenkung brauchst, Victoria läuft im Unikino und ich muss da eine Filmkritik zu schreiben und eh auch hin. Vielleicht willst du ja mitkommen?“ Jana sieht sie fragend an und Fionas Hand zittert ein wenig, sie muss schnell den Stift hinlegen, damit es nicht auffällt. „Ja. Klar, ich war schon voll lange nicht mehr im Kino. Und im Unikino noch nie. Gerne. Willst du mir vielleicht deine Nummer geben, dann können wir uns vorher irgendwo treffen und zusammen hingehen?“ Jana sagt Fiona ihre Nummer und Fiona lässt bei Jana anklingeln. „Gut, ich geh mal wieder hoch zu Flaubert und dann melde ich mich später bei dir, ist das ok?“, fragt sie und Jana bejaht. Sie winken sich und dann sitzt Fiona wieder vor ihren Büchern. Wie soll ich mich jetzt noch konzentrieren, fragt sie sich. Und denkt nur daran, dass sie später neben Jana im Kino sitzen wird.

Das Licht im Saal geht aus und Jana beugt sich hinüber und flüstert in Fionas Ohr. „Übrigens, ich habe die Diogenesausgabe gefunden“, sagt sie und legt ihre Hand auf Fionas. „Sie stand einfach im Regal gegenüber. Komisch, oder?“ Fiona dreht ihren Kopf leicht und blickt in Janas Augen, die sie zu mustern scheinen. „Ja, komisch, wer das da wohl so falsch eingeordnet hat?“ Sie muss grinsen. „Ich wusste es!“ kichert Jana und Fiona drückt ein bisschen fester ihre Hand. „Dem oder der bin ich auf jeden Fall zu Dank verpflichtet. Vielleicht waren es aber auch die Steine bzw. die Fugen.“ „Was?“, fragt Jana. „Erzähl ich dir nachher.“, antwortet Fiona und hält Jana die Tüte Popcorn hin.

November 2007 – ZOB Berlin

„Linie 573 von Paderborn nach Berlin“, sagt Kevin in den Lautsprecher zu seiner Linken und wartet darauf, dass sich die Schranke vor ihm hebt. „Mann sind wir heute pünktlich“, sagt er zu Stefan, der rechts von ihm sitzt. „Freu dich nich zu früh, is erst Hannover, da kann noch allet passieren. Wär sicher nicht did erste mal“, sagt Stefan und Kevin antwortet nur nickend, weil er damit beschäftigt ist, in den verdammt engen und für die ganzen Buslinien viel zu kleinen ZOB in Hannover einzubiegen und seine Parkbucht anzupeilen. „Sach ma, Hannover. Da klingelt doch wat bei mir. Hat hier nicht die Kleine jearbeitet, die du letzte Mal so toll fandest?“, fragt ihn Stefan von der Seite. Kevin lacht. „Katja! Allerdings! Und heute mach ich ernst! Hab ich mir zumindest echt vorgenommen.“ „Und wat willste sagen, Don Giovanni? Ick bin der Busfahrer von letzte Mal? Da biste kaum der einzige. Meinste die erinnert sich überhaupt an dich?“, will Stefan wissen. „Bist du nicht hier um mich zu unterstützen?“, fragt Kevin vorwurfsvoll. „Beim Fahren, beim Busfahren, Junge. Aber wat solls, recht haste eigentlich. Immer ran an den Speck. Wird schon schiefgehen.“, sagt Stefan und grinst Kevin an, der es mittlerweile sicher in die Parkbucht geschafft hat und sich aus dem Fahrersitz schwingt. Als er die Menschen sieht, die sich vor der Tür zur Traube formen und es alle nicht erwarten können, als erste in den Bus zu kommen, um sich noch schnell die letzten Fensterplätze zu sichern, stöhnt er auf. „Och Mann, gerade heute, warum sind denn das so viele jetzt? Ich hab doch was vor!“, seufzt Kevin. Stefan steht auf und klopft ihm ein paar mal heftig auf die Schulter „Dann mach ma hinne, Don Giovanni, ab zu deiner Perle. Ick übernehme hier.“ Kevin dreht sich zu ihm um und wirft Stefan eine Kusshand zu. „Danke Mann, das ist echt nobel! Vergess ich nicht!“ Und dann springt er aus der Bustür und läuft über den Parkplatz zum Kiosk. Irgendwie ist Kevin jetzt doch ein bisschen aufgeregt. Er hat nicht damit gerechnet, dass Stefan sich wirklich daran erinnert, und jetzt macht das schon ein bisschen Druck. Er wird immerhin auf jeden Fall wissen wollen wie es gelaufen ist und wenn er jetzt nen Korb kriegt, dann weiß Stefan das mal sicher. Andererseits, so hat er wenigstens Zeit. Die letzten drei Wochen, die er jetzt schon Busfahrer ist und in denen er auch immer die gleiche Strecke hatte, war er jedes Mal in Hannover beim Kiosk. Das erste mal einfach zufällig, weil ihm die Kippen ausgegangen sind. Aber seit dem hat er immer Zigaretten gekauft. Auch wenn er eigentlich noch mehr als genug hatte. Das erste Mal war er schon verschossen, das hat er sofort bemerkt. Nicht nur, dass sie wirklich richtig hübsch ist, sie ist auch echt lustig und lacht so richtig laut, das mochte er schon immer bei Frauen. Erst hat er gedacht, dass es ja Quatsch ist. Sie in Hannover, er in Berlin. Aber Katja hat ihn irgendwie verfolgt und er ist ja sowieso immer viel unterwegs und fragen kostet nichts. Naja, denkt Kevin jetzt, kostet schon einiges an Überwindung. Mit leicht zittrigen Händen, die er zur Sicherheit lieber noch schnell in die Taschen steckt, geht Kevin in den Kiosk. „Hey, ihr seid heute ja richtig pünktlich“, ruft Katja als sie Kevin sieht. „Ja, total“, sagt der und freut sich, dass sie zu wissen scheint, wann er kommt. „Ich nehm ein Päckchen Nil bitte“, sagt er und ärgert sich, dass er sich nicht ein bisschen Zeit gelassen hat. Jetzt ist ja schon alles erledigt und er muss schnell was finden, das er sagen könnte. Aber Katja kommt ihm zuvor. „Heute ist mein letzter Tag“, sagt sie und Kevin starrt sie an. „Was? Wieso?“, fragt er und weiß, dass er völlig unsouverän aussieht, aber das ist ihm egal. „Ich fahr in Urlaub. Mit meiner Mitbewohnerin, zwei Wochen nach Mallorca. Als Abschied quasi.“ „Als Abschied von was?“, Kevins Knie sind ein bisschen weich und er weiß nicht ob er die Antwort wissen möchte. Das läuft alles gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. „Ich zieh aus Hannover weg“, sagt Katja und dann redet sie noch weiter über Tapetenwechsel und mal was neues und dass sie vielleicht studieren möchte. Aber Kevin kann ihr nicht mehr so richtig zuhören, er fühlt sich wie der Ball beim Squash, der immer und immer wieder gegen die Wand geprügelt wird. Hinter ihm hört er ein lautes Hupen und als er sich umdreht, steht der große grüne Bus schon an der Schranke, bereit weiter nach Berlin zu fahren. „Tja, ich muss wieder“ sagt Kevin und kann Katja kaum ansehen. „Ich wünsch dir einen schönen Urlaub und ja, ein schönes Leben und so“ Er versucht zu lächeln. Katja greift in ihre Tasche. „Hier, tipp mal schnell deine Nummer ein. Wie sehen uns ja jetzt erstmal nicht mehr.“ Sie hält ihm ihr Handy hin und Kevin tippt wie in Trance. Stefan hupt noch einmal und Kevin winkt Katja zu, läuft in Richtung Bus und springt rein.
„Na, Giovanni? Haste ihre Nummer?“, will Stefan wissen. Kevin lässt sich auf den Stuhl ganz rechts bei der Tür plumpsen und schüttelt den Kopf. „Doof jelaufen, mach dir ma nich so ne Platte. Andere Mütter und so, du weißt schon.“, sagt Stefan trösend. „Sie hat meine Nummer“, sagt Kevin und dann erzählt er Stefan alles und weiß immer noch nicht wie er sich jetzt fühlen soll. Die Fahrt nach Berlin über, starrt er aus dem Fenster und fragt sich, ob sie sich mal melden wird. Eigentlich könnte er sich ja freuen, immerhin wollte sie seine Nummer… Als Stefan neben ihm leise flucht und auf die Bremse tritt, stellt Kevin fest, dass er eingeschlafen ist. Schon fast da, das hätte er auch wissen können ohne nach draußen zu gucken, weil Stefan eigentlich nur flucht, wenn eine rote Ampel seine Fahrt unterbricht. In Kevins Tasche vibriert sein Handy. Eine Nachricht von unbekannt. Ob sie das ist fragt er sich und tippt auf den Display. „Ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, wohin ich ziehe: Nach Berlin. Dann kannst du mir ja alles zeigen, wenn du magst. Katja“ „ Linie 573 von Paderborn “, hört er Stefan neben sich sagen und ruft: „Nach Berlin!“ „Junge“, sagt Stefan, „der Typ in der Zentrale weiß in welcher Stadt er sitzt, dat brauch dem nich jesacht werden.“ „Nein, Katja zieht nach Berlin, nach Berlin“, ruft Kevin. „Jut zu wissen Giovanni, dann kannste mich ja auf ein Bierchen einladen zur Feier des Tages, aber jetze wird erstmal noch den Leuten ihr Gepäck jegeben.“

Oktober 2008 – Kurfürstenstraße

Eva steht an der Straße und läuft auf und ab. Sie ist eigentlich viel zu aufgekratzt um nach Hause zu fahren, aber es war ein langer Tag. Ihre erste große Ausstellung in einer echten Galerie. Darauf hat sie lange gewartet. Und es waren so viele Leute da, dass sie es kaum fassen konnte. Als sie vor ihnen stand um etwas über ihre Kunst zu sagen, hat sie ein bisschen gezittert, aber das hat hoffentlich keiner bemerkt. Es ist schon ziemlich kalt geworden und sie ärgert sich, dass sie heute morgen nur ihre Strickjacke angezogen hat. Aber sie ist froh, dass sie überhaupt an irgendwas denken konnte. Sie blickt sich ab und zu um und wartet auf ein gelb leuchtendes Schild, das auf sie zukommt und ihr sagt, dass sie bald zu Hause und im Warmen sein wird. Da ist es! Gerade als sie ihren Arm zum Winken ausstreckt, streckt sich ein zweiter Arm direkt neben ihr in Richtung des Taxis. Sie blickt fassungslos zu dessen Besitzer. Wie dreist ist der denn, denkt sie und so schaut sie ihn auch an. Das Taxi hält vor ihnen.
„Was soll denn das?“, fragt Eva den jungen Mann neben ihr. Der schaut sie verwirrt an.
„Oh, ich wusste ja nicht, dass du hier auch auf ein Taxi wartest.“, sagt der. „Und was soll ich hier dann sonst machen, wenn ich an der Straße stehe“, fragt Eva ihn pampig.
„Äh, ich, ehrlich gesagt. Ach, keine Ahnung“, druckst der Mann herum und dabei flackern seine Augen kurz auf die gegenüberliegende Straßenseite. Eva folgt seinem Blick und wird rot. Drüben stehen sie, in kurzen Röcken, hohen Schuhen und kurzen Daunenjacken, die nur die obere Hälfte des Körpers warm halten. Sie laufen die Straße ein Stückchen auf und ab und manchmal hält ein Auto und dann steigt eine ein oder auch nicht. Eva steht der Mund offen und sie blickt prüfend an sich hinunter.
„Was ist mit euch beiden Turteltäubchen. Steigt ihr jetzt ein oder was?, fragt der Fahrer, der das Beifahrerfenster runtergelassen hat.
„Wollen wir uns das teilen?“, fragt der Mann und es klingt als würde er ihr das letzte Stückchen frisch gebackene Waffel mit Puderzucker anbieten. Eva nickt und setzt sich hinten ins Taxi. Er steigt ein, setzt sich neben sie und sagt, er muss in die Großbeerenstraße. Eva dreht ihm den Kopf zu und fragt:
„Du denkst ich bin ne Nutte?“ Der Taxifahrer hebt den Blick in den Rückspiegel.
„Nein, nein, ich… ok, ja, entschuldigung. Ich hab es aber nicht böse gemeint, ich habe auch nicht richtig hingeguckt. Also ich habe ja nur eine Frau gesehen, die hier auf und ab läuft und das war’s.“ Eva lacht.
„Schon irgendwie krass, aber gut. Ich bin Eva.“, sagt sie und steckt ihm ihre Hand entgegen.
„Freut mich, ich bin Thomas“, sagt der junge Mann.
„Ich bin Holger, hi.“, sagt von Vorne der Taxifahrer.
„Ich meine, nur dass ihr das für später wisst.“ Thomas und Eva blicken sich fragend an.
„Na, wenn ihr das euren Kindern und Enkelkindern später mal erzählt“, sagt Holger der Fahrer und lacht.
„Das wäre jedenfalls eine der Knaller-Kennenlern-Geschichten, das sage ich euch! Nicht ganz jugendfrei, aber das ist nicht schlimm. Sex sell’s, das ist ja bekannt.“ Thomas und Eva lachen.
„Von wo kommst du jetzt?“, fragt Eva.
„Ich war bei einer Ausstellung“, sagt Thomas. „Von einer jungen Künsterlin, die gerade mit der Uni fertig ist und total tolle Sachen macht. Ein Freund hat mir davon erzählt, der kennt die. Ich wollte eigentlich auch kommen um zu hören, was sie so sagt, aber ich bin leider zu spät gekommen. Voll schade. Ich hätte schon Fragen gehabt.“
„Die kannst du ja noch stellen“, sagt Eva und grinst. „Vielleicht nur nicht mehr heute, es ist schon echt spät.“
Thomas sieht sie an und sie sieht, dass das für ihn nicht deutlich genug war.
„Das war meine Ausstellung; zumindest passt die Beschreibung perfekt“, sagt Eva.
„Echt? Das ist ja krass! Da habe ich ja richtig Glück gehabt, dass ich mich so dreist vor dein Taxi geworfen habe. Ehrlich, ich würde wirklich gerne noch das ein oder andere fragen“, sagt Thomas und wirkt fast aufgeregt wie Eva nicht ohne einen Anflug von Stolz feststellt.
„Hier kannst du halten Holger bitte, ich muss hier raus. Hier ist meine Nummer drauf“, sagt Eva und hält Thomas eine kleine eckige Karte hin. „Falls du morgen Zeit hast, also ich dachte, morgen würde mir schon gut passen.“
„Da sagst du doch nicht nein, oder Thomas? Manche Chancen bekommt man nur einmal“, sagt Holger und guckt vielsagend in den Rückspiegel.
„Natürlich nicht. Ich freue mich schon! Ich ruf dich dann morgen direkt nach dem Aufstehen an“, sagt Thomas und winkt Eva hinterher. Eva steht noch eine Weile vor ihrer Haustür und lässt den Tag an sich vorüberziehen. Sie atmet tief ein und findet, er hätte eigentlich nicht besser enden können.

September 2013 – Turmstraße

Simone nimmt zwei Stufen auf einmal und sieht dabei hinunter auf ihre neongelben Laufschuhe. Die haben sich irgendwie seltsam verformt durch das viele Laufen und sollten ersetzt werden. Im ersten Stock angekommen, sieht sie sich um und findet schnell die Schilder. Zu den Zimmern 120 – bis 135 nach rechts. Ämter sind doch alle gleich aufgebaut. Wenn man das System einmal durchschaut hat, dann weiß man es für immer. Sie läuft den Flur entlang und ihre Schuhe quietschen auf dem Linoleumboden. Rechts stehen ein paar Türen offen und Simone fragt sich, wie man hier arbeiten kann. Dieser immer unbestimmt traurig machende Versuch die Büroräume persönlich zu gestalten. Sinnsprüche an die Wände zu kleben und Topfblumen auf die Fensterbretter. Andererseits. Ihr Arbeitsplatz ist, was das angeht, bestimmt nicht besser. Entweder sie sitzt in der Unibibliothek an einem der vielen Tische, die noch hunderte andere benutzen oder bei sich zu Hause, wo sie beschlossen hat, allen Firlefanz von ihrem Schreibtisch und der Wand darüber zu entfernen, weil sie sich einredet, dann könnte man sich besser konzentrieren. Bei dem Gedanken daran muss sie grinsen. Wie man sich immer selber verarscht. Das macht wahrscheinlich jeder, aber sie ist schon eine wahre Meisterin geworden, immer eine Aufgabe zu finden, die man schnell vor der Arbeit erledigen muss um dann wirklich effektiv arbeiten zu können. Ich kann nur in aufgeräumten Zimmern richtig denken. Oder: Ohne eine Kanne Tee brauche ich gar nicht anfangen, weil ich sonst wieder aufstehen müsste und die Arbeit unterbrechen, um Tee zu kochen. Sie ist am Ende des Ganges angekommen und schaut etwas verwirrt auf das Schild neben der letzten Tür. 135. Sie muss zur 122. Viel zu weit gelaufen. Von wegen System durchschaut, denkt sie und dreht sich um. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie eine Stimme aus Raum 135. Eine Frau mit rotem Haar hat sich in ihrem Stuhl sehr weit nach hinten gelehnt, so dass es aussieht, als würde sie jede Sekunde umkippen und sieht Simone fragend an. Fast ein bisschen vorwurfsvoll. „Ähm ja, ich suche Zimmer 122 und habe einen Termin bei Herrn Flender, wegen einer Probe, die ich abgeben soll.“ „Warten Sie kurz. Sie lässt sich mit einem lauten Knallen wieder auf alle Rollen des Stuhles nach vorne fallen, hebt sich mit beiden Armen aus dem Sitz heraus und läuft zur Tür. Sie streckt ihren Kopf in den Flur. Am anderen Ende kommt ein junger Mann aus einem Zimmer. „Ha, genau der, an den müssen Sie sich wenden.“ Danke, wollte Simone gerade sagen, da ruft die Rothaarige: „Herr Flender! Stuhlprobe!“ Simone fühlt sich angestarrt. Sie bemüht sich nicht in die Gesichter der Wartenden auf dem Flur zu sehen. Geht auf den Mann zu und sieht ihm ins Gesicht. Jetzt beginnt sie richtig zu glühen. Ihr Kopf muss knallrot sein. Wer schreit denn bitte auch Stuhlprobe durch den Flur? Jetzt weiß jeder, dass ich hier mit meiner Kacke in der Tasche rumlaufe. Der Mann, der ihr entgegen kommt, sieht gut aus. Ziemlich gut, stellt sie fest, je näher sie ihm kommt. Bei jedem Schritt verflucht sie die Rothaarige einmal mehr. Obwohl, wenn sie das eh nur bei ihm hätte abgeben können, wäre sie wohl nicht drum herum gekommen. „Guten Tag“, sagt er und sieht sie an. Irgendwie lange. Ein bisschen zu lange, denkt sie, dafür dass ich hier den Kacketransporter mache. Flitzekacke schießt es ihr durch den Kopf und sie bemüht sich nicht zu lachen. „Hallo“, antwortet sie und sagt: „Ich habe einen Brief bekommen, und ich wollte eigentlich in den Semesterferien in einer Eisdiele arbeiten und naja, aber jetzt…“ Sie weiß plötzlich nicht mehr, wie sie weiterreden soll. „Jetzt müssen Sie Röhrchen abgeben“, hilft er ihr und lächelt. „Genau, ja. Deswegen bin ich hier.“ „Gut, kommen Sie mit.“ Sie gehen gemeinsam in ein Zimmer, in dem eigentlich nur ein Tisch und ein Waschbecken stehen. „Wie heißen Sie denn?“ „Simone äh, Frau Weber.“ Er lächelt und sucht aus einem Stapel Blätter, das zu ihr gehörige heraus. Dieses Lächeln, denkt sie. „Campylobacter, aha.“ „Ja“, sagt sie und kramt in ihrer Tasche nach dem Röhrchen. „Einfach hier rauflegen“, sagt er. Sie nickt. „Wie geht es denn jetzt weiter?“, fragt sie. „Also, soll ich mich melden oder so? „Sie müssen ja drei Proben negativ haben. Das heißt sie kommen übermorgen wieder und am Freitag. Das wird aber sicherlich noch ein bisschen dauern, bis die Ergebnisse dann hier sind. Aber ich rufe Sie sofort an, wenn ich was höre.“ Er sieht ihr in die Augen. Ich rufe an. In jedem anderen Zusammenhang wäre das aus seinem Mund besser gewesen als jetzt. „Gut“ sagt sie und „danke“ und „Tschüss“ und dann läuft sie den Gang hinunter und die Treppe und setzt sich in ihr Auto. Sie beugt sich leicht nach rechts um sich im Spiegel anzusehen. Mist, denkt sie. Nach dem Joggen. Schwitzig und rot und ungewaschene Haare. Mist. Übermorgen wasche ich mich vorher, nimmt sie sich vor. Sie spürt ein leichtes Kribbeln und stellt erstaunt fest, dass sie sich seltsamer Weise darauf freut, die nächste Stuhlprobe beim Gesundheitsamt abzugeben. Sie schüttelt ihren Kopf und denkt, dass das sicher Blödsinn ist, jemanden kennenzulernen, also hier, und so.
Aber am Mittwoch hat Simone die Haare gewaschen und klopft an Zimmertür 122. „Ja bitte“ kommt es von drinnen und sie geht hinein. Er schaut zu ihr auf und lächelt. Steht auf und sagt: „Simone. Äh, Frau Weber“ und sie sieht, dass diesmal er nicht weiß, was er als nächstes sagen soll.

August 2015 – Columbiadamm

Stefan liegt mit dem Rücken auf dem kleinen Handtuch, das gerade genug Platz für einen Teil seines Rückens und ein Stück seiner Oberschenkel bietet. Seine Beine und Arme hat er ausgebreitet und ins Gras gelegt, das angenehm stachelig ist. Er ist fast schon wieder getrocknet und merkt wie die Sonne seine Haut spannt. Die Augen hat er geschlossen und hört auf die Geräusche des Columbiabades. Der Geruch von Kaffee, von dem Stefan weiß, das er billig ist und von Pommes zieht über ihn hinweg. Die Pommes sind geriffelt, richtige Schwimmbadpommes. So wie sie schon waren, als er noch ein kleiner Junge war. Stefan geht jeden Tag im Sommer baden. Immer ins Columbiabad, weil es hier Sprungtürme gibt und er das „Oh“ und „Ah“ der Menge gerne hört und das Platschen, wenn jemand eintaucht. Er hat schon überprüft, ob er nur vom Hören sagen kann, ob jemand vom Dreier, Fünfer oder Zehner gesprungen ist. Aber das hat nicht geklappt. Er mag, wie die Sonne im hellblauen Chlorwasser blitzt und dass man richtig Bahnen schwimmen kann. Seit ein paar Jahren laufen hier immer Aufpasser rum, riesige Securities, in schwarzen Hosen und Shirts und Stefan beneidet sie nicht, denn es ist bestimmt viel zu heiß. Er ist sich eigentlich sicher, dass die Securities ihn und die anderen Badegäste beneiden und sich sicher wünschen auch ins Nasse zu springen. Aber er hat nie gefragt.
Stefan liegt eigentlich immer an der gleichen Stelle. Aber dafür ist er auch der Typ, auch wenn er sich das nicht gerne eingesteht. Beim Inder isst er immer das Gleiche und er probiert auch nie einen neuen Weg zur Arbeit aus. Er mag eben, wenn es ist, wie es ist. Heute, und auch schon letzte Woche, und auch die davor hat gegenüber auf der anderen Seite des Schwimmbeckens eine Frau gelegen, in einem schwarzweißen Badeanzug, der ihm aufgefallen ist. Badeanzüge findet er eigentlich nur okay, wenn es so richtige Schwimmbadeanzüge sind und echt Sport gemacht wird. Sonst bevorzugt er Bikinis. Aber er musste sein Urteil revidieren. Dieser Badeanzug sieht fabelhaft aus. Und die Frau auch. Sie ist klein und hat dunkles Haar und hat diese Art sich aus dem Wasser zu stemmen. Er hat so getan, als würde er lesen, hat sie aber eine Weile beobachtet. Normalerweise ist er kein Starrer oder so, gar nicht. Aber sie hat ihn auch nicht bemerkt. Überhaupt schien sie auf niemanden zu achten. Die meisten beobachten ja, was so passiert, aber sie geht schwimmen und dann legt sie sich hin und hört Musik. Auch sie liegt immer an der gleichen Stelle, hat Stefan erfreut festgestellt. Und sich dann gewundert, dass ihn das so freut.
Hinter sich hört Stefan laute Stimmen. Er versteht die Sprache nicht. Es ist ihm ein bisschen peinlich, dass er nicht mal sagen kann, ob es Türkisch ist oder Arabisch oder was ganz anderes. Er wohnt schon so lange in Berlin, dass er mal wenigstens Türkisch von Arabisch unterscheiden können sollte. Es werden mehr Stimmen und jetzt brüllen sie richtig und Stefan öffnet sein rechtes Auge einen Spalt und hält sich die Hand schützend darüber. Er verdreht den Kopf nach hinten und öffnet dann auch das zweite Auge. Mittlerweile stehen sich gut zehn Männer gegenüber. Und Stefan sieht, dass von beiden Seiten mehr dazukommen. Sie stehen so, dass sie die Frau und ihren Badeanzug verdecken und Stefan steht auf, um nachzusehen, ob sie noch da ist. Sie scheint nichts mitzubekommen, vielleicht ist ihre Musik zu laut, denkt Stefan. Er hat dieses Gefühl, das ist wie ein innerliches Zittern und eine seltsam apathische Ruhe des Körpers. Er hebt sein Handtuch nicht auf, und nimmt auch seine Tasche nicht mit und geht auf die Männer zu. Drohgebärde, denkt er, so wie die Männer voreinanderstehen. Es wird lauter und die tiefen Stimmen rutschen in die Höhe. Und als es beginnt, ist es wie ein langgezogener Moment, als würden sich die Sekunden strecken um dann wie die Männer loszuschlagen. Jetzt rennt Stefan doch und reißt die Hand der Badeanzugfrau nach oben. Sie starrt ihn an, schreit ihm ein Hey! entgegen und dann steht ihr Mund offen. Stefan zieht sich ihre Tasche über die Schulter und sie hinterher. Er hat noch nie so eine riesige Menschenmenge gesehen, die aufeinander einprügelt. Draußen auf dem Columbiadamm steht er in Badehose und entschuldigt sich.
„Ich hoffe, ich habe dir nicht wehgetan. Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagt er.
„Nein. Krass! Danke, sagt sie. Ich habe mich immer bisschen amüsiert über die Securities hier. Fand ich irgendwie albern. Aber sowas hab ich auch noch nicht erlebt. Sag mal, wie heißt du denn eigentlich, damit ich auch richtig Danke sagen kann, mit Namen.“
„Ich bin Stefan.“

Juli 2014 – Leopold Platz

Clara sitzt zwischen Pappkartons und großen blauen Müllsäcken, aus denen ihre Kleider halb heraushängen. Sie sitzt hier schon seit mindestens zwei Stunden und sieht auf die kahlen Wände und den nackten Boden und es gefällt ihr. Das ist ihre erste Wohnung. Ihre allein. Sie will diesen Moment so lange es geht hinauszögern und fürchtet sich ein wenig, ob dieses Gefühl vielleicht verschwinden könnte, wenn sie anfängt Kisten auszuräumen und Regale aufzubauen. Dann ist es vielleicht schon wieder weg, das Gefühl von neu und aufregend. Sie zieht noch einmal an dem Rest Zigarette und zwischen Zeigefinger und Mittelfinger wird es ein bisschen heiß. Sie hat den letzten Tabak bis auf das kleinste Krümelchen aufgeraucht. Ein Glas neben ihr ist schon halb voll mit Stummeln und stinkt ein bisschen. Aber jetzt, wo sie in ihrer eigenen Wohnung ist und überall rauchen darf, muss sie das ausnutzten. Sie ist vorhin, nachdem sie ihre Umzugshelfer ein bisschen zu schnell verabschiedet hat, durch die Wohnung gelaufen. Durch den Flur und die Küche, ins Bad und durch ihr Zimmer auf den kleinen Balkon, ganz langsam, ist überall stehen geblieben und hat tief inhaliert und dann den Rauch in die Räume geblasen. Ausräuchern, hat sie gedacht und dass man das in mehreren Kulturen macht, das reinigt die Wohnung und vertreibt die Geister oder die schlechte Energie oder so. Weiß sie nicht mehr genau. Aber ist auch egal, so wie sie das macht, ist das eben ihre Art und das vertreibt dann auch alles, was sie nicht hier haben will. Und das sind Regeln von anderen. Sie grinst zufrieden als sie daran denkt.
Sie steht auf und streckt sich, stellt fest, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hat einzukaufen. Sie hat gar nichts. Kein Essen, nichts zu trinken und keinen Tabak. Guter Grund noch die Gegend ein bisschen abzuchecken, denkt sie und drückt ihren rechten Fuß in den Turnschuh. Sie weiß, dass die anderen gerne noch länger geblieben wären. Sie ist die erste, die jetzt alleine wohnt, alle anderen wohnen noch zu Hause. Aber sie wollte einfach gerne den ersten Abend ganz alleine sein. Das ist sonst gar nicht so, eher komplett das Gegenteil. Jetzt, wo sie hier so rumläuft, durch die Starßen, die sie gar nicht kennt, wäre es schon gut, jemanden zum Reden zu haben oder so, aber es ist auch nicht schlimm. Sie kommt sich ziemlich erwachsen vor. Und selbstständig. Das ist fast so krass wie alleine ins Kino gehen, findet Clara. Ihr Magen grummelt ein bisschen und sie dreht um und läuft zurück. Sie ist eigentlich nie vorher richtig im Wedding gewesen, aber die Wohnung war billig und sie wollte lieber nicht zu nah an ihren Eltern dran wohnen. Und es ist auch aufregend, irgendwie, denkt Clara, weil sie alles neu erkunden kann, wie jemand, der in eine neue Stadt gezogen ist, nur dass sie eben noch Freunde hat. An der Ecke vorne am Platz ist ein Späti und sie beschließt, dass es heute zur Feier des Tages Yumyum Suppe geben wird und Bier und Zigaretten und sie auch nichts davon wegräumt, jedenfalls nicht heute. Morgen dann vielleicht, mal schaun. Sie öffnet die Tür und hört den Verkäufer. Aber sie sieht niemanden. Von irgendwo hinter dem Tresen schallt es laut:
Das Gesetz bedeutet nichts für mich
Ich geb‘ schon immer ’n Fick drauf, was richtig ist
Ich hab ’ne große Fresse, auch wenn du ein Grizzly bist
Mein Freund, ich bin wie ich bin, Mann, es ist wie es ist“
Clara sagt: „Hallo“, aber sie bekommt keine Antwort. Ob er sie nicht gehört hat. Clara macht noch einen Schritt nach vorne. Überlegt ob sie noch mal lauter was sagen sollte. Vielleicht hat er sie nicht gehört und würde sich total erschrecken, wenn sie so plötzlich da steht.
„Ich passe nicht in dein Konzept, egal mir geht es prächtig
Pass gut auf, hör mir zu, mach’s mir nach
Ich bleib so, wie ich bin, egal, was ihr sagt“
Ja, sie sollte was sagen, vielleicht ist der sonst auch voll peinlich berührt und dann hätte sie es sich mit dem Spätimann verscherzt. Sie öffnet den Mund, aber in dem Augenblick kommt er mit den Armen den Beat betonend hinter einem Aufsteller vorgesprungen:
„Ich bin all das, wovor deine Eltern dich immer gewarnt haben!,
Keine Sorge, du brauchst dich nicht erschrecken“, sagt er und lacht. „Ich hab mich nicht erschreckt“, sagt Clara mit aufgerissenen Augen. Sie versucht schnell, wieder lässig zu wirken und zuckt mit den Schultern. Mann, der denkt ja, ich hab nicht mehr alle Lichter auf der Torte, befürchtet Clara. „Heute ist Sonntag, das ist immer voll Stress im Sommer. Da muss ich mich mal abregen zwischendrin. Bist aus Berlin oder?“ „Ja, aber ich bin neu hier hin gezogen, deshalb.“, antwortet Clara und denkt dabei „Deshalb! Deshalb was?!“ Sie fühlt sich zappelig, zwingt sich aber ganz ruhig zu stehen. Sie starrt auf die Chipswand als würde sie darüber nachdenken, ob sie Zwiebelringe oder Nicknacks will. Dabei wollte sie Suppe. „Deswegen kenn ich dich gar nicht“, sagt seine Stimme neben ihr. „Die Zugezogenen erschrecken sich immer, wenn ich rappe. Denken dann, dass ich das ernst meine und so. Ist vielleicht auch wegen meinem Äußeren.“ Clara spürt, dass er sie ansieht und sie dreht den Kopf zu ihm. Seine Haare sind glatt und ganz dunkelbraun. Und lang, so dass er sie zu einem Zopf gebunden hat. „Ich kann nicht rappen“, sagt Clara und hätte sich gerne die Zunge abgebissen. Warum rede ich so einen Mist? „Das ist einfach, glaub mir ma. Wenn du erstmal damit anfängst, geht’s voll klar.“ Clara nickt und greift nach den Zwiebelringen. Und dann steht sie vor ihm am Tresen. Sie räuspert sich, hat irgendwas im Hals. Und bittet um den Pepe Tabak. Er legt alles vor sie hin. Sie kramt in ihrer Tasche nach dem Geld, legt es auf die Geldablage. Das macht sie sonst nicht, aber sie wird sicher ohnmächtig, wenn sie ihn berührt. Das wär’s noch. Sie sieht deutlich vor ihrem inneren Auge. Wie sie das Bewusstsein verliert, nach hinten taumelt, dann doch der Kopf nach vorne knallt, direkt auf den Tresen und sie alle Süßigkeiten umreißt und den Aufsteller mit den Feuerzeugen und schließlich in geplatzten Chipstüten liegen bleibt…
Sie blickt nicht auf und murmelt ein Ciao und dreht sich um. Auf einmal fühlt sie sich nicht mehr so richtig erwachsen und so. Clara ärgert sich ein bisschen. Sie hätte noch was cooles sagen sollen. Irgendwas. Und da fällt es ihr ein. Sie dreht sich um und sagt:
„In der Zukunft ist alles Perfekt,
Doch fast alle meine Leben sind weg,
Nichts hat geklappt, weder rappen noch Sportler,“
Er lächelt. „Materia Girl, ich merk schon… und dann verbeugt er sich und sagt: „Materia Girl, willkommen bei uns im Wedding, jetzt sehn wir uns ja öfter.“
Clara grinst und ist ziemlich zufrieden. Und hungrig, das schon noch.

 

Video: Marteria – Endboss

 

Juni 2015 – Rüdesheimer Platz

Lara ist nach dem Festival erst mit Annika unterwegs gewesen und dann noch schnell zu ihren Eltern gefahren, damit sie sich nicht anhören muss, dass sie, wenn sie sich schon mitten im Semester Urlaub nimmt, nicht einmal zu Hause gewesen sei. Eigentlich hatte Lara auch gar nicht vorgehabt mit zu dem Festival zu kommen, das klang schon komisch. Ein Indoor-Beach-Festival an der Ostsee. Aber Annika hat sie überredet, dass das sicher total viel Spaß machen würde und eh alle da wären. Und dann könnte Lara auch endlich mal ein bisschen lockerer werden. Das würde ihr nicht schaden. Naja, und damit hat Annika, muss Lara zugeben auch Recht gehabt. Es waren so schöne Tage, dass sie sich während dessen, vor der Bühne, gedacht hat, dass sie dieses Gefühl abspeichern muss. Dieses wohlige Gefühl von Ausgelassenheit, tanzend, für sich allein, aber in einer großen Menschenwabe, die ihr das Gefühl gegeben hat, alle wären ein einziger großer Organismus. Und sie hat kurz und schnell die Augen geschlossen und wieder geöffnet, wie eine Kamera ihr Objektiv einmal schnell mit diesem fast zischenden Geräusch schließt und wieder öffnet. Und Lara hat gehofft, dass sich das Bild und der Geruch und die Wärme von Annikas Arm an ihrem in sie hineinbrennt. Bei ihr gespeichert bleibt. Als Kost für schlechte Tage, von der man noch lange zehren kann. Sie ist kurz neidisch auf Menschen, die es wirklich schaffen, sich ihren Gedankenpalast so groß und ausgeschmückt zu bauen, dass sie hindurchschlendern können, eigentlich schon beinahe darin leben können und nichts vergessen müssen. Oder immerhin sehr viel weniger als Normalsterbliche. „Ich wünschte, ich hätte einen riesigen Gedankenpalast hierfür!“, hat sie in Annikas Ohr gesagt, und die hat sie angesehen und den Kopf geschüttelt. „Du guckst eindeutig zu viel Sherlock“, hat Annika ihr zugerufen und sich dann vorgebeugt und Lara geküsst. „Und dafür natürlich auch“, hat Lara gesagt.

Lara sitzt am Tisch neben ihren Eltern. Sie wurden eingeladen und jetzt sitzen sie hier, bei den Freunden ihrer Eltern, die Lara nicht kennt. Der Sohn der Gastgeber ist auch da, und seine Freundin. Die müssten in meinem Alter sein, denkt sie sich, immerhin, Glück gehabt. Lara mag solche Veranstaltungen nicht. Einmal, weil sie sich nicht sonderlich viel aus Essen macht, und es immer fast ungläubig beobachtet, wie stundenlange Gespräche sich nur um Garverfahren, neue Rezepte und den Geschmack von Pickels und Käsecreme drehen können. Und auch, weil man anfangs immer so steif beieinander sitzt und sich ausfragt, und das mag sie generell nicht. Viel zu schnell ist man da in unsicheren Gefilden. Für Lara fühlt sich Smalltalk nicht an, wie ein Wortgeplänkel, sondern wie ein Verhör, bei dem man Rede und Antwort stehen muss und es als unhöflich gilt, den Leuten einfach zu sagen, dass sie das nichts angeht.
Halb neben ihr am Kopfende sitzt die Freundin des Sohnes. Die sieht ganz nett aus, findet Lara. Wie war noch mal ihr Name, Marie, Julia? Mist, sie hätte aufpassen sollen. Die Freundin beugt sich leicht zu ihr hinüber und tippt auf Laras Handgelenk. „Warst du auf einem Festival?“, fragt sie. Ihre Augen sind groß und sehen Lara erwartungsvoll an. Lara nickt. „Ja, eben gerade sozusagen.“ Sie spürt wie ihr heiß wird und sie ärgert sich, dass sie nicht daran gedacht hat das Bändchen abzunehmen. Und bei dem Gedanken ärgert sie sich noch mehr. Warum abnehmen? Was ist denn schon dabei? Lara spürt wie sich innerlich hart macht. Ihre Mauern hochzieht. Sich ihre Festung baut. Immer noch. Es ist wie ein blöder Automatismus, über den sie längst hinweg sein sollte. Lockerer werden, so nennt Annika das. „Was ist das für ein Festival? L-Beach? Das kenn ich gar nicht.“, sagt die Freundin. Das ist ein Beach-Festival. Für Lesben.“, sagt Lara zu ihr. Mit Nachdruck. Betont Lesben. Die Augen der Freundin scheinen ein Stück größer zu werden, sie runzelt die Stirn. Lara macht sich bereit. „Ist es nicht ein bisschen kalt für ein Beach Festival?“, fragt die Freundin und Lara fühlt sich wie ein angestochener Luftballon, aus dem die Luft entweicht. „Es ist ein Indoor-Festival“, antwortet Lara. Und als die Freundin grinst, muss sie selber lachen. „Ja, ich weiß wie das klingt. Aber es war eigentlich ziemlich cool. Ich war mit meiner Freundin da.“
Lara fühlt sich gut. Das Essen ist gut, aber das wäre es für sie eh gewesen und die Freunde ihrer Eltern scheinen ganz nette Leute zu sein. Sogar der Smalltalk klappt. Beim Nachtisch beugt sich die Freundin nah zu Lara. „Sag mal, ich weiß, das ist jetzt eine komische Frage, aber das beschäftigt mich. Wie habt ihr denn eigentlich Sex? Ich meine du und deine Freundin. Ihr habt ja gar keinen… Naja, ich meine. Bist du dann noch Jungfrau eigentlich?“ Lara sieht sie an, die Freundin. Sie sieht die Neugierde in ihrem Gesicht. Und wieder ist da diese Situation. Soll Lara ihr jetzt wirklich beim Tiramisu neben ihren Eltern erklären, dass man für befriedigenden Sex keinen Penis braucht? Sie schielt hinüber zu ihren Eltern, die von ihrem Gespräch nicht mitzukommen scheinen. Lara hat es ihren Eltern schon länger gesagt. Sie wissen es und es ist in Ordnung. Aber dass ein Outing nicht so funktioniert, das man einmal sagt: Mama, Papa, ich bin lesbisch und dann nie wieder darüber redet, das haben sie nicht so verstanden. Und Lara hat auch nicht immer die Kraft. Wenn sie daran denkt, dann fühlt sie wieder diese Hitze in sich. Sie legt ihre Hände auf ihre Oberschenkel, da wo in so einer Situation normalerweise Annikas Hand liegen würde, mit einem leichten Druck, der ihr zeigt, dass jemand hinter ihr steht. Und plötzlich ist das Bild da. Das blaue Licht, die Wärme von Annikas Arm an ihrem. Lara kann sich wieder tanzen fühlen. Und sie dreht sich leicht zu der Freundin, denkt an Annika und dass sie stolz auf sie sein würde, und lachen, wenn sie ihr nachher am Telefon davon erzählt. In ihrem Kopf stürmt Lara die heruntergelassene Zugbrücke ihrer Festung entlang und brüllt: „Für Annika!“ und fügt „Und mich!“an und dann sagt sie: „Also, die Befriedigung einer Frau ist nicht abhängig von einer Penetration.“ Die Freundin beugt sich näher zu ihr hin und Lara hat das Gefühl, dass dieses Gespräch vielleicht nicht nur für sie eine Lektion werden könnte.

Mai 2011 – Skalitzer Straße

Holger hat es eben erst gelesen und ärgert sich. Endlich sind die mal in Berlin und ihm sagt keiner Bescheid. Das muss er dann im Newsletter lesen. Er schaut auf die Uhr und überlegt, ob er sich jetzt noch auf den Weg machen soll und versuchen Karten an der Abendkasse zu bekommen. Die Vorstellung mit einem Schild vor dem Festsaal zu stehen, wo: „Suche Karten!“ draufsteht, schreckt ihn ab. Aber dann blickt er noch mal auf das Bild auf seinem Laptop. Farida vor dem Mikrophon, die Hände seitlich an ihrem Körper ausgebreitet, wie ein schwarzer Engel und neben ihr ihr Bruder, dessen langes Haar ihm ins Gesicht fällt. Und er denkt an ihre Stimme… „Ach, zum Teufel.“, sagt er zu seinem Laptop, klappt ihn zu und geht ins Bad. Er weiß, dass er es bereuen würde, und immerhin, er hätte den Newsletter ja auch morgen lesen können. Obwohl er daran nicht glaubt, denkt er kurz, dass das ja schon so was wie ein Zeichen ist.
Vor dem Festsaal haben sie sich versammelt. Die Fans. Vor ihm eine schwarz gekleidete Menschentraube, viele mit langem Haar. Hier fühlt er sich wohl. Noch auf dem Weg zur Abendkasse zieht er sich das Haargummi aus den Haaren und lässt sie über seine Schultern fallen. Er hat darüber nachgedacht, ob es an der Zeit wäre sie zu färben, aber das traut er sich irgendwie nicht zu. Das muss man schon gewissenhaft machen, sonst sieht man den Ansatz. Also lässt er sie eben so. Braun und grau. Oben eher grau und unten noch braun. Aber er weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis das grau auch bis in die Spitzen gewandert ist.
Er stellt sich in die Mitte des Raumes. Nicht zu weit vorne, da ist es ihm dann doch zu laut und er befürchtet, dass man vielleicht das Blut riechen könnte und davon würde ihm bestimmt schlecht werden. Die Band begießt sich vor ihren „Ritualen“, wie sie ihre Shows nennen immer mit Blut. Um den Tod mit auf die Bühne zu tragen. Naja, das sieht schon beeindruckend aus, das schon. Aber abgesehen davon, dass er schon lange Vegetarier aus Überzeugung ist, findet Holger sie Vorstellung von nassen Blutspritzern, die ihm entgegenfliegen nicht so toll. Dafür die Musik um so mehr. Irgendwo zwischen den Anfängen von Pychedelic und den frühen Sachen von Iron Maiden. Das reißt ihn einfach mit. Er nickt im Takt und sieht sich im Raum um. Ein Stück hinter ihm, fällt ihm eine junge Frau auf. Sie hat die Augen geschlossen und bewegt sich zur Musik, als wäre sie allein im Raum. Er sieht nach vorne, auf die Bühne, wo Farida wie beschwörend, mächtig und mit wilden Locken in der Mitte zwischen ihrer Band steht und dann blickt er sich wieder zu der Frau um. Sie wirkt wie Faridas Gegenüber. Aber ohne diese Wildheit, sie sieht fast durchscheinend aus. Zart. Ihre Haut ist sehr weiß. Ihr Haar schwarz, lang und offen. Nur die vorderen Strähnen sind zusammengerollt und um den Kopf gewunden. Sie hat die Haare einer Königin, denkt Holger. Einer gepiercten Königin, und lächelt bei dem Gedanken. Plötzlich macht sie die Augen auf und Holger kann sich nicht wegdrehen, obwohl er weiß, dass er sie anstarrt. Sie schließt ihre Augen aber wieder, so als wäre sie nur kurz aus der Tiefe aufgetaucht, wie um Luft zu holen und sich dann wieder zu versenken.
Auf der Bühne singt Farida „Christ Or Cocaine“ und neben ihm stößt ihn ein Mann an, hält ihm einen Joint entgegen und sagt: „Fuck both of them. I choose Weed.“ Holger schüttelt nur den Kopf. „Straight edge“, sagt er und der Mann neben ihm klopft ihm auf die Schulter. „Cool Mann!“
Holger drängt sich durch die Menschen, um sich was zu trinken zu holen. Vor ihm, am Tresen sieht er die junge Frau von eben. Er stellt sich neben sie und sie bestellt sich eine Cola. „Für mich auch eine“, ruft er dem Barmann hinterher. Die Frau sieht ihn an. „Hallo!“, sagt Holger. Sie streckt ihm ihre Hand entgegen und sagt: „Ich bin Susanna. Ich finde zu einem ersten Hallo gehört auch eine Hand und ein Name.“ „Ja, richtig, finde ich auch. Ich bin Holger.“ Und dann hört er sich von dem Newsletter erzählen, und dass er dann an ein Zeichen dachte und eigentlich will er aufhören zu reden, aber er kann nicht. Susanna lacht und legt sogar kurz ihre Hand auf seinen Unterarm. „Du hast wunderschöne Haare.“, sagt er und sie antwortet, das sollte er mal ihrer Großmutter in Franken sagen, die immer noch Tränen in den Augen hat, wenn sie ihr Kommunionsfoto mit den blonden Locken sieht. Holger muss lachen. „Das mache ich gerne.“ Sie stoßen an und drehen sich in Richtung Bühne. „I’ll Be Your Ghost“ singt Farida und Susanna lehnt sich zu Holger und sagt in sein Ohr: „Die sind einfach der Wahnsinn, oder?“ Er nickt, und Susanna redet weiter. „Nur das mit dem Blut, das mag ich gar nicht. Bäh. Aber ich bin auch Veganerin, von daher.“ Holger dreht sich zu ihr hin, ihm steht der Mund leicht offen und er erinnert sich schnell daran ihn zu schließen. Vielleicht fängt er ja doch noch damit an, an Zeichen zu glauben. Er beglückwünscht sich selbst, dass er noch her gekommen ist. Und dass er den Newsletter nicht erst morgen gelesen hat.

April 2015 – Theodor-Heuss-Platz

Ich habe mich oben auf die Empore gestellt, damit ich den Überblick behalten kann und sie gleich sehe, wenn sie kommen. Es ist schon voll und beinahe alle Stühle sind besetzt. Ich habe sie zwar lange nicht mehr gesehen, aber trotzdem keine Angst, dass ich sie nicht erkennen würde. Sie ist nicht zu verwechseln. Claudia ist mittlerweile weit über siebzig Jahre alt. Ihre Schulter ist kaputt und ihr Knie auch, weswegen sie einen seltsam wiegenden Gang hat. Früher hat sie in Berlin gewohnt. Und dort hat sie auch Uto kennengelernt. Uto ist fünfzehn Jahre jünger als sie und auch mindestens so viele Zentimeter größer. Bei ihm ist körperlich noch nichts kaputt.
Als sie sich kennengelernt haben, war die Stadt noch geteilt. Es war Sommer und Claudia hat schon damals nur Röcke getragen, eine Angewohnheit, die sie konsequent bis ins Alter weiterführt. Weite, bunte Röcke, die im Wind ihre Beine wild umflattern und die Schwingung ihres wiegenden Ganges aufnehmen. Wenn Uto nur dunkel trägt, ist sie neben ihm ein vielfarbig leuchtender Punkt. Sie ist laut und viele würden sicher sagen, vorlaut. Es gibt eigentlich kaum einen Spruch, den sie nicht zu erwidern weiß. Schlagfertig. Aber nicht verletzend, zumindest nicht mit Absicht. Uto ist still, auch wenn er eigentlich Schauspieler ist. Das merkt man nur, wenn man an einem Sommerabend mit den beiden draußen auf der Veranda sitzt und er alte Lieder singt, von damals, als Berlin noch zwei Städte waren. Dann hat er eine volle, laute Stimme, die weit hinaus in die Nacht trägt und Claudia klatscht den Takt mit ihrer flachen Hand auf der Tischplatte. Ab und zu nippt sie am Mescal, den trinkt sie gerne.
Wenn sie sich über etwas aufregt, dann klatscht sie erst mit der Hand auf den Tisch, dann in die Hände und dann mit beiden Händen auf ihre Wangen. Wenn sie wütend ist, dann zum Abschluss gegen die Stirn. Es ist eine schnelle, laute Bewegung, die ihr allein gehören zu scheint. Jedenfalls habe ich nie jemand andern auch nur etwas ähnliches machen sehen und selbst ziemlich lange geübt bis ich die Bewegung nachmachen konnte. Aber es hat sich komisch angefühlt, als hätte ich etwas gestohlen. Also habe ich sie ihr gelassen. Zu Uto sagt Claudia sehr selten seinen Namen, immer bloß seinen Nachnamen. Das kam mir am Anfang seltsam vor, aber da ihn sonst niemand so nennt, scheint das ihre Privatheit zu sein. Manchmal setzt sie ein leises „Mein“ vor seinen Nachnamen und ist für einen seltenen Moment still und ruhig. Sonst ist sie, was man einen unruhigen Geist nennen würde. Ständig in Bewegung. Entweder sie wiegt sich durch ihr Haus oder sie rollt kleine Fleischbällchen zwischen ihren Händen, ohne besondere Sorgfalt, aber man sieht, dass sie das schon sehr oft getan hat.
Jedenfalls, als die beiden sich kennengelernt haben, da hat Claudia Uto sehr schön gefunden, und sehr jung. Abenteuerlich. Es war ein Sommerabend und sie waren auf der gleichen Feier eingeladen. Es gab viel zu trinken und es wurde getanzt. Claudia hat beides ausgiebig getan. Und dann kam Uto. Sie hat ihn gesehen, wie er da stand, geschniegelt, mit hochgestelltem Kragen und ganz Dandy. Ein bisschen belächelt hat sie ihn, weil er so schick war. Ein Schauspieler, na, das hat sie nicht überrascht. Und dann haben sie getanzt. Das war gut. Und sie haben viel geredet. Das war auch gut. Und es war Sommer. Sie erzählt, dass sie ihm von Anfang an gesagt hat, dass sie vielleicht ein bisschen alt ist für ihn. Und dass sie Kinder hat, zwei Stück. Und dann hat sie ihn mit nach Hause genommen. Sie sagt zu mir, sie habe gedacht, naja, der wird schon wieder gehen, am nächsten Morgen, wenn er sieht, wie mein Leben so ist. So wenig schick. Und mit Kindern ist ja eh alles anders.
Aber Uto ist nicht gegangen am nächsten Morgen. Am nächsten Tag ist er schon gegangen, er musste ja auch arbeiten, aber wieder gekommen ist er. Jeden Tag. Claudia sagt, dass sie das fast nicht glauben konnte. Als sie ihm das gesagt hat, dass sie nicht gedacht hätte, dass so ein Junger wie er, auf so ein Leben Lust hat, ist er wütend geworden. Richtig böse, sagt sie und hat ihr gesagt, wenn er so was noch mal hört, dann überlegt er sich das mit dem Gehen noch mal. Also hat sie erstmal nichts mehr gesagt. Aber das ist schon lange her. Jetzt erzählt sie es gerne. Und lacht dabei. Mittlerweile leben sie weit weg von der Stadt, zwischen Feldern. Und sie nennt ihn immer noch bei seinem Nachnamen, obwohl es lange auch schon ihrer ist. Und dann sieht sie ihn an und ist für einen Moment still und ganz ruhig.
Ich sehe sie von Oben, sehe sie sofort. Sie trägt einen rot-gelben Rock und winkt Uto hinter sich her. Läuft durch die vollbesetzten Reihen und ruft so laut, dass ich sie bis hier nach Oben hören kann. „Siehst du sie? Komm!“ Ich rufe ihren Namen und winke, bedeute, dass wir uns unten treffen. Sie winkt zurück und ruft hinter sich: „Pfeiffer, da ist sie!“ und wiegt sich in Richtung Tür.

Februar 2005 – Insbrucker Platz

Magda steigt auf ihr Fahrrad. Es ist noch kalt draußen, aber sie fährt das ganze Jahr über mit dem Fahrrad und es macht ihr nichts aus. Immerhin scheint ja auch die Sonne und weit hat sie es auch nicht. Sie weiß ihre Termine auswendig. Es ist Mittwoch und das bedeutet sie fährt als erstes zum Insbrucker Platz. In einer der Wohnungen rechts neben der Autobahnauffahrt wohnt Sybille. Die ist jetzt fast siebzig Jahre alt und Magda kommt schon seit fast fünf Jahren zu ihr. Montags, Mittwochs und Freitags. Sybille hatte ein bewegtes Leben, so könnte man das schon sagen, denkt Magda, aber eigentlich noch viel mehr, sie sollte schon lange tot sein, das sagen zumindest die Ärzte. Aber Magda denkt, Sybille lebt noch so lange, weil sie sich freut, dass jetzt, wo sie Krebs hat, sich mal jemand um sie kümmert. Nach ihr schaut, wie es ihr geht, ihr die Medikamente gibt, ihr die billigen Zigaretten holt, vom Netto nebenan.
Während Magda den Kopf nach unten hält, damit ihre Augen nicht tränen im Wind, denkt sie daran wie Sybille ihr von ihrem zweiten Mann erzählt hat und gesagt hat, dass der auch nicht das hellste Licht auf der Torte gewesen ist. Magda muss lachen. Für solche Sprüche mag sie Sybille. Magda hört auf in die Pedale zu treten und steigt ab. Sie klingelt an der Tür, aber Sybille öffnet nicht. Magda benutzt ihren Schlüssel. Sie steigt hinauf in den zweiten Stock und öffnet die Wohnungstür. „Sybille!“, ruft sie, aber es bleibt still. Sie geht ins Wohnzimmer, sieht Sybille auf dem Sofa sitzen und weiß, dass Sybille gestorben ist. Sie sieht sie nur von hinten, der Kopf ist ihr auf die Brust gefallen. Während Magda um das Sofa herum läuft, lässt sie Sybille nicht aus den Augen. Magda hat schon viele Tote gesehen, das bleibt bei dem Beruf nicht aus, aber sie ist immer noch erstaunt, auch nach so vielen Jahren, dass es dieses instinktive Wissen gibt. Auch bei dem ersten toten Menschen, den sie gesehen hat, wusste sie es sofort. Etwas ist anders. Sie kniet sich vor Sybille auf den Boden und legt ihr eine Hand auf ihr Knie. Es fühlt sich knochig und hart unter ihrer Hand an. „Sybille“, sagt sie noch einmal, diesmal leise, fast geflüstert. Magda schließt kurz die Augen, dann steht sie auf und geht zum Telefon. Ein Arzt muss den Tod feststellen, dann wird sie beim Bestatter anrufen. Nachdem der Arzt ihr zugenickt hat, wählt sie die Nummer des Bestatters, von einem, der über das Sozialamt abrechnet. Der Arzt schreibt, reicht ihr den Totenschein. Jetzt isses offiziell und amtlich Sybille, denkt Magda. Magda ist erstaunt als es an der Tür läutet. Das ging aber schnell, denkt sie und drückt den Türöffner. Es klopft an der Tür. Sogar sehr schnell. Magda öffnet die Tür und ein Mann in ihrem Alter streckt ihr die Hand entgegen. „Maier“. „Friedrich, guten Tag“, antwortet Magda und weil sie nicht anders kann, sagt sie auch, dass er aber sehr schnell war. Er betritt die Wohnung und Magda hält die Tür weiter geöffnet, sieht den Bestatter fragend an. „Kommen Sie nicht sonst zu zweit?“, fragt sie. „Mein Kollege kommt nach, der braucht noch bisschen“, sagt Herr Maier. Er sieht gar nicht aus wie ein Bestatter denkt Magda. Er trägt schwarz, natürlich tut er das. In seinem Anzug und mit der Krawatte sieht er schon aus wie ein Bestatter, aber ihm fehlt dieses mitleidige um die Augen. Vielleicht kann er das auch, vielleicht gibt es da ein Training oder so, was man sagt und wie man guckt. Magda würde ihn eigentlich gerne fragen, aber sie traut sich nicht. Sybille hätte gefragt, das hätte sie auf jeden Fall. Magda fühlt sich irgendwie rastlos. Hier so rumzustehen und auf den zweiten Mann zu warten, kommt ihr albern vor. Und Sybille hätte sicher gelacht, wie die beiden da so rumstehen neben ihr und sich verlegen auf die Füsse gucken. „Wenn Sie wollen, können wir auch schon mal anfangen, wenn das in Ordnung ist“, sagt sie deshalb zum Bestatter. Der zieht erstaunt beide Augenbrauen hoch und braucht ein paar Sekunden bis er etwas sagt. „Also, wenn Ihnen das nichts ausmacht, gerne, sogar, ja, sehr gerne. Ich gehe und hole alles aus dem Wagen.“

Markus zieht die Tür hinter sich ran und läuft die Treppen hinunter zum Wagen. Was für eine Frau. Das hat er schon gedacht als sie ihm die Tür geöffnet hat. Ihr feines blondes Haar. Sie ist sehr klein, eigentlich viel zu klein für die Krankenpflege hat er gedacht, aber ihr Körper ist fest und hart, er hat ihre Waden gesehen, durch die Strumpfhose. Seine können da nicht mithalten, hat er gedacht. Er hat sich nicht anmerken lassen, dass sie ihn beeindruckt, nein, das kann er ja kaschieren. Seinem Gesicht kann man nichts ansehen, was er nicht möchte. Dachte er. Dass sie ihm angeboten hat, schon mal anzufangen… Tolle Frau. Er geht zum Wagen und holt die Bahre, Folie und das Tuch. Mehr werden sie nicht brauchen. Er bringt alles zum Fahrstuhl und fährt in den zweiten Stock. Sie legen gemeinsam die Frau, die Sybille heißt, erst auf dem Sofa hin und dann heben sie sie auf die Bahre. Er greift sie unter den Schultern und sie ihre Füsse. Er denkt an Gangsterpärchen und wie sie Leichen in Teppiche einwickeln, und gleich darauf, dass ihm das gar nicht ähnlich sieht. Aber wenn er der blonden Frau ins Gesicht schaut und keine Angst sehen kann und keine Scheu, gut, sie ist auch Pflegerin, das wird nicht die erste Tote sein, aber trotzdem. Sie arbeitet so unerschrocken, ihm fällt kein besseres Wort ein, dass er einfach an Bonny und Clyde denken muss, dabei weiß er gar nicht, ob die jemals eine Leiche in einen Teppich gerollt haben. Er schüttelt den Kopf und zwingt sich einfach an die Folie zu denken, und an das Tuch und vielleicht noch an ein bisschen Smalltalk. „Sie machen das toll“, sagt er und bereut es. Sie sieht zu ihm hoch, die Folie in der Hand, etwas überrascht, dann lächelt sie und nickt nur. Das ging daneben. Er beeilt sich das Tuch zu holen. Sie breiten es über die Bahre. „Man sieht schon, dass da ein Toter drunter liegt“, sagt die blonde Frau trocken. „Wir müssen sie ja nicht verstecken“, sagt er und sie sieht ihn wieder an und diesmal lacht sie. „Stimmt, ein Glück, das wäre nicht so einfach. Und jetzt? Fahrstuhl?“ Er nickt und beide gehen in die Knie und tragen Sybille aus ihrer Wohnung. Er drückt den Kopf für den Fahrstuhl als sein Kollege, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf kommt. „Tja, dann sind Sie wohl erlöst“ sagt Markus und hofft, dass seine Stimme nicht so traurig klingt, wie er sich fühlt. Aber was soll er auch machen, Kaffe? Das macht man nicht, das ist völlig daneben. Aber er will auch nicht nichts machen. Er zieht seine Karte aus der Tasche und gibt sie der Frau. „Wenn Sie einen Job brauchen oder Tapetenwechsel, Sie können jederzeit bei uns anfangen“, sagt er und denkt, er hat ihr immerhin seine Nummer gegeben. Immerhin.

Januar 2008 – Rathaus Neukölln

Maik ist eingeladen zum Geburtstagsbrunch. Sein Patenkind Lotta wird zwei Jahre alt. Es ist noch ziemlich früh am Sonntag und irgendwie ungewöhnlich um diese Uhrzeit schon so wach und aktiv zu sein. Gestern war er mit Freunden aus Stockholm feiern, das hätte er mal bleiben lassen sollen. Sein Kopf fühlt sich seltsam geschwollen an und jedes Geräusch reißt unangenehm an seinen Nerven. Es soll die Regel geben, erzählt Andrea, die Mutter seiner Patentochter und seine beste Freundin während sie das Rührei in der Pfanne tötet, dass man zu jedem Geburtstag so viele Kinder einlädt wie das eigene Kind alt wird. Maik nickt, muss sich zusammenreißen nicht den Holzlöffel aus ihrer Hand oder die Pfanne vom Herd zu ziehen. „Was ist mit dir? Hast du wen festes gerade“, fragt Andrea. Das kam plötzlich, denkt Maik und starrt immer noch das Ei an. Es ist schon in kleine Krümel zerfallen und allein die Vorstellung das gleich essen zu müssen, macht ihm eine Gänsehaut. Maik schüttelt den Kopf. „Nein“, antwortet er. Andrea hebt den Kochlöffel und sieht aus als würde sie ihm gleich eine ihrer Weisheiten zum Thema Liebe mitteilen, da klingelt es an der Tür und sie lässt den Löffel zurück in die Pfanne fallen. Maik macht den Herd aus und sieht das Ei traurig an. Nach und nach kommen die Gäste. Mütter und Väter und Frauen aus dem Yogakurs werden ihm vorgestellt, Maik kann sich die Namen nicht merken. Andrea wuselt mit Tellern und Essen durch die Küche ins Wohnzimmer. Lotta sitzt in der Mitte des Zimmers mit ihren Geschenken und reißt eins nach dem anderen aus dem Geschenkpapier. Lotta hält ihm ein Buch entgegen, das Geräusche macht und ein Tamburin, auf das sie begeistert einschlägt. Maik muss sich bemühen nicht das Gesicht zu verziehen. Ihr Kindergartenfreund Antonio will auch gerne mitspielen, und streckt die Hand nach dem Tamburin aus. Lotta schreit: „Nein, das ist meins“ und schlägt nach Antonios Hand. „Lotta, willst du nicht mit Antonio spielen?“, fragt Andrea und „NEIN!“, brüllt Lotta zurück. Andrea wendet sich an den enttäuschten Antonio: „Tja, da kann ich leider nichts machen. Vielleicht willst du dir ja in Lottas Zimmer was zum Spielen holen“ Antonio nickt und Lotta schreit entsetzt auf. Es folgen Erklärungen, Ermahnungen, noch mehr Geschrei und Maik würde jetzt sehr gerne sein Rührei essen, aber ihm fällt ein, dass das ja auch nichts mehr wird. Er bemitleidet sich stumm eine Weile selbst und beschließt, den Sekt aus dem Kühlschrank zu holen. Er balanciert Gläser und den Sekt auf einem Tablett ins Wohnzimmer als Lotta auf ihn zugerannt kommt um an ihm hoch zuspringen. Maik versucht die Gläser zu retten, verschüttet dabei aber den Sekt, den größtenteils Lotta abbekommt. Es klingelt und Andrea läuft zur Tür, die weinende Lotta hinter ihr her. Maik beschließt einmal in Ruhe bis drei zu zählen und wischt dann den Sekt auf. Vielleicht ist das hier einfach nicht seine Welt. Ein weiterer Vater betritt den Raum, reicht Maik die Hand und lächelt ihn an. Ein bisschen zu lange lächelt er ihn an. Maik ist verwirrt. „Holger“, stellt sich der Mann vor. „Hallo, Maik“, antwortet Maik. Nein, er irrt sich nicht, so wie er ihn ansieht. Maik muss Andrea fragen, wer das ist, aber die ist mit Lotta im Bad. Holger setzt sich ihm gegenüber und greift nach der Sektflasche und sieht enttäuscht aus als er feststellt, dass sie leer ist. „Im Kühlschrank ist noch eine“, sagt Maik und Holger nickt, lächelt und geht in die Küche. Wieder dieses Lächeln und dieses ein bisschen zu lange in die Augen schauen. Maik sieht sich nach Andrea um, die mit Lotta aus dem Bad kommt. Lotta kommt auf ihn zugerannt, springt auf seinen Schoß und versucht noch ein Stück höher zu klettern. Ihre Haare riechen noch nach Sekt und die Windel ist auch voll. Maik muss lachen und sagt: „So ähnlich hat es gestern nacht auch gerochen. Alkohol und Scheiße.“ Es ist stumm. Er blickt in betretene Gesichter, die Yogafrau macht „tststs“ und Andrea sieht ihn böse an. Maik räupert sich. „Ja, ich äh, also ich gehe mal eine rauchen.“ Draußen auf dem Balkon nimmt er einen tiefen Zug. Oh Mann, das war wieder mal voll ins Fettnäpfchen! Dass die alle immer so gar keinen Humor haben. Hinter ihm geht die Tür auf und Holger reicht ihm ein Glas Sekt. „Das hast du dir verdient“, sagt er und lacht. Maik wird ein bisschen rot. „Tja, das fand keiner so wirklich lustig.“ „Bisschen schon, ich zumindest“, antwortet Holger, nimmt Maik die Zigarette aus der Hand und zieht daran. Nach der geteilten Zigarette fragt Holger: „Wollen wir wieder?“ und Maik nickt. Drinnen spielt der CD Player den Bibabutzemann und Maik überlegt ob er sich nicht einfach schnell aus dem Staub machen soll. Aber Holger. Und sein Lächeln. Maik holt tief Luft und betritt das Wohnzimmer. Lotta, Antonio, Andrea und die Yogafrau tanzen. Und Holger streckt ihm seine Hand entgegen. „Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“ Maik muss lachen und nimmt Holgers Hand. Holger versucht einen Walzer, aber das will nicht so richtig klappen und Maik tritt auf einen Legostein und unterdrückt einen Fluch. Holger hält immer noch seine Hand und fragt: „Wenn das hier vorbei ist, hast du dann vielleicht Lust auf ein Bier oder noch einen Sekt? Hier um die Ecke ist meine Bar, wenn du magst.“ Und da weiß Maik plötzlich, wer Holger ist. Andrea hat ihm sogar gesagt, sie würde ihn einladen. Er sieht zu ihr hinüber und sie grinst ihn breit an.

2. Dezember 1994 – Weinmeisterstraße

Lea sieht Nikolai dabei zu wie er sich Pullover, noch einen Pullover, seine Jacke, Schal, Mütze und Handschuhe anzieht und ihr dann aufgeplustert und etwas steif die Wohnungstür aufhält. Sie winken den Nachbarn zu und laufen gemeinsam das Treppenhaus hinunter. Vor ihrer Tür angekommen, weiß Lea nicht recht, was sie sagen soll. Eigentlich will sie noch nicht schlafen und alleine bleiben will sie auch nicht. Niko schaut auf seine Schuhe und dann wieder Lea an und sagt: „Tja, also, na dann…“ Und sie antwortet: „Ja, also, dann…“ Und dann lachen sie und Lea hört sich fragen: „Frühstück?“, obwohl ihr gleich einfällt, dass sie außer Joghurt gar nichts hat. „Lass uns spazieren gehen und dann zeige ich dir meinen Bäcker“, schlägt Nikolai vor und Lea holt erleichtert ihren Mantel. Jetzt, wo sie neben ihm läuft, die Hände tief in den Taschen vergraben, gefällt ihr die Stadt immer besser. Nikolai kommt von hier und erzählt ihr von jeder Ecke eine Geschichte. Hier hat er mal gearbeitet und da war er mal essen, aber gut war es nicht. Also da nicht hin. Und wenn man die Straße runterlaufen würde, da wäre seine Schule von früher. Und plötzlich hat Lea das Gefühl, dass diese große, graue Stadt, die bisher einfach nur voller Menschen war und laut, am Morgen so schön ist, wie keine andere. Und sie nimmt seine Hand, obwohl sie sich das sonst nie trauen würde. Er sieht sie von der Seite an, ein wenig überrascht, hält aber ihre Hand fest und lässt auch nicht mehr los. Handschuh in Handschuh laufen sie noch eine ganze Weile bis sie vor seinem Bäcker stehen bleiben. Auch hier sind die Scheiben an den äußeren Rändern beschlagen und Lea freut sich auf Kaffe und Wärme. Aber vielleicht wäre es auch besser keinen Kaffe zu bestellen, überlegt sie. Dann könnte Niko sie fragen ob sie viellicht noch auf einen zu ihm kommen möchte. Sie schüttelt den Kopf und denkt, dass man sowas doch nur in Filmen fragt. „Was ist los?“, fragt Niko. „Ach nichts“, antwortet Lea und grinst. Sie betreten den Laden und der Geruch von frisch Gebackenem hüllt sie ein. „Hier backen sie noch selber“, sagt Niko und beugt sich hinunter um die Brötchen in Augenschein zu nehmen. „Brauchst du ne Brille?“, fragt Lea und Niko wird ein bisschen rot. „Schon“, lacht er, „aber im Winter mag ich es nicht, wenn die beschlägt, wenn man irgendwo reingeht und man immer am Eingang schon so blöd rumsteht, weil man nichts sehen kann. Deswegen zieh ich sie eigentlich nur im Sommer an.“ Lea muss lachen. Sie holen für jeden mindestens vier Brötchen, was eindeutig viel zu viel ist. Niko redet mit der Verkäuferin als würde er sie schon ewig kennen. Fragt sie nach dem Film, den sie gestern im Kino gesehen hat und zum Abschied sagt er: „Grüß zu Hause alle“. Lea ist neugierig und fragt, als sie den Laden verlassen, warum er meinte, dass sei sein Bäcker. „Naja, einmal, weil er direkt bei mir unten im Haus ist und dann, weil die Verkäuferin meine Mutter ist.“ Lea hat sich gerade ein Stück Brötchen in den Mund geschoben und muss husten. „Was?“, fragt sie entsetzt und Niko muss so lachen, dass er sich kurz an die Hauswand lehnt. „Ich wollte nur dein Gesicht sehen. Hat sich gelohnt“. „Haha“, sagt Lea, muss aber auch lachen.
Sie stehen vor seiner Haustür und sie traut sich nicht ihn anzusehen. Sie würde sich sofort verraten, glaubt sie. Ihr Blick würde sofort sagen, ja, ich will noch zu dir hochkommen. Sie will auch gerne wissen, wie seine Wohnung aussieht, ob er Mitbewohner hat und welche Bilder bei ihm an den Wänden hängen. Welche Bücher er liest. Ja, die Bücher würden sie sehr interessieren. Aber auch noch andere Sachen, denkt Lea und dass sie froh ist, dass die eignen Gedanken wirklich keiner hören kann. Sie hat nur schlechte Witze im Kopf oder schlechte Filme. Heute ist es besonders schlimm. „Ich weiß, das ist irgendwie ne blöde Frage“, setzt Niko an und „Ja.“, sagt Lea und im gleichen Moment wird ihr klar, dass er noch gar keine Frage gestellt hat. „Äh, ich meine, ich trinke gerne Kaffe“, stammelt Lea, merkt wie ihre Wangen glühen und auch, dass sie jetzt eh nur noch Blödsinn reden könnte. „Also ich habe leider gar keinen Kaffe, aber dafür Butter und Marmelade. Wäre das auch ok für dich?“, grinst Niko. Lea sieht ihn erleichtert an, denkt dass sie eigentlich eh gar keinen Hunger, sondern viel mehr Lust auf andere Dinge hat und nickt. Niko lächelt, schließt die Haustür auf und macht eine einladende Geste: „Wenn ich Sie auf ein Stück Butter einladen dürfte…“

1. Dezember 1994 – Weinmeisterstraße

Lea steht eingeklemmt zwischen Jacken und der Toilettentür eng an die Wand gepresst und ihr ist heiß. Sie bereut jetzt schon, dass sie sich hat überreden lassen mit auf diese Party zu kommen. Wehmütig denkt sie an das Buch, das neben ihrer Matratze auf dem Boden liegt. So, wie sie Bücher nur ungern lange liegen lässt. Aufgeklappt und umgedreht. So leiert alles aus. Sie hätte es noch schnell zuklappen sollen, denkt sie und dass es noch nicht zu spät ist, zu gehen. Sie könnte noch ein Bisschen lesen, vielleicht einen Wein trinken oder auch Tee. Vielleicht noch kurz die Hand an die kalte Fensterscheibe pressen um sich zu versichern wie schön warm und gemütlich man es hat. Stattdessen steht sie hier schwitzend und eingeengt zwischen lauter Fremden. Sie ist für ein Praktikum in die Stadt gekommen, aber so richtig gefällt ihr dieses „Berlinding“ nicht. Es ist so voller Menschen, dass sie sich eigentlich den ganzen Tag nach ihrem Zimmer sehnt und nach ein bisschen Vertrautheit.
Es ist Freitag und Lea weiß ja, dass es nun mal zum guten Ton gehört, an so einem Abend auszugehen und ihre Mitbewohner haben sie auch weniger gefragt, als einfach mitgezerrt. Es hat nur noch gefehlt, dass sie ihr auch die Schuhe zuknoten. Das war aber gar nicht nötig gewesen, denn sie hatte im Grunde nicht einmal die Zeit, sie sich auszuziehen. Sie war eben erst zur Tür herein, da kamen ihr alle lärmend entgegen und auf ihre Einwände hin haben sie ihr nur lachend die Tasche abgenommen, den Mantel ausgezogen, in die Wohnung geworfen und Lea umgedreht und die Treppe hochgeschoben. „Es ist unsere Aufgabe als erste WG in diesem Komplex, andere uns nacheifernde willkommenzuheißen und zu helfen wo wir können: Beim Trinken.“, ereifert sich Thomas und winkt mit den Flaschen in seinen Händen.
„Moonage Daydream“ dröhnt aus dem Zimmer nebenan und Lea kann nicht anders als trotz ihres Missmutes, mit dem Fuss zu wippen. Sie beschließt, sich zur Küche durchzukämpfen um sich einen Drink zu holen oder zumindest ein Bier zu erwischen, das halbwegs kalt ist. Ihr gegenüber an der Wand gelehnt, fällt ihr ein blonder Mann auf. Auch er macht keinen begeisterten Eindruck. Vielleicht kommt das daher, dass auch er mit niemandem redet, denkt Lea. Oder es liegt daran, dass man an der Wand lehnt.
Der Blick in den Kühlschrank verrät ihr, dass sie sich den Rest des Abend vermutlich keine Sorgen um den Alkohol machen braucht. Viel eher wie man ihn aus dem Kühlschrank herausbekommen soll, ohne dass alles in sich zusammenfällt. „Da hat einer Tetris gespielt“, sagt hinter ihr eine Stimme. Lea dreht sich lächelnd um. „Das dachte ich eben auch“, antwortet sie dem Blonden. Und fügt dann hinzu: „Na, hast du Lust auf eine
Runde Jenga ?“ „Das ist dieser Turm, wo man was rausziehen muss, oder?“, fragt der Blonde und Lea nickt. „Na klar“, sagt er, streckt sich halb in den Kühlschrank hinein und hält mit jeder Hand eine Flasche Bier fest und sieht Lea an. Die nickt, quetscht sich unter seinem Arm hindurch und zieht langsam an einer Flasche Berliner Kindl. „Nein, nein, wir müssen die doch dann auch trinken“, ruft der Blonde. „Nimm lieber die“ und er streckt seine Nase hin zu einer Flasche Urquell. „Aye“, sagt Lea und verlangt, dass Urquell dann mindestens fünf Extrapunkte bei der Wertung bringen muss. Sie zieht die Flasche heraus und hält sie triumphierend in die Luft. „Und jetzt du“ sagt sie. Während Lea die restlichen Flaschen hält und er dicht vor ihr steht um sich ein Bier herauszuziehen, stellt sie fest, dass er sehr angenehm riecht. Das gibt auch fünf Extras, denkt sie und muss über ihren schlechten Privatwitz lachen. „Was ist?“, fragt der Rücken vor ihr. „Mir ist aufgefallen, dass ich gar nicht weiß, gegen wen ich hier spiele“, sagt sie. „Ich bin Nicolai, aber alle nennen mich Nico“, sagt der Rücken. „Ich bin Lea“. „Aber du spielst nicht gegen mich, du verlierst!“, ruft Nico und hält in jeder Hand eine Flasche.
Lea sitzt neben Nicolai auf einem Sofa und dreht sich in Richtung Fenster. Es ist beschlagen von der Hitze und sie wischt mit der Hand darüber. Der Himmel wird hell. „Weißt du, als ich dich am Kühlschrank getroffen habe, wollte ich mir eigentlich nur noch schnell ein Bier für den Weg nach Hause mitnehmen“, sagt Nico „und jetzt wird es schon wieder hell“. Lea wird ein wenig rot und weiß kurz nicht, wohin sie schauen soll und ist erleichtert, als sie merkt, dass es ihm ähnlich geht. Vielleicht, denkt sie, vielleicht ist dieses Berlinding ja gar nicht so übel.

November 1998 – Wilhelmstraße

Wenn Stefan in die Küche läuft, durch eine Tür, die automatisch und völlig ohne Geräusch seitlich in der Wand verschwindet, um einen Bon auf den Pass zu legen, bleibt sein Blick immer auf ihren Händen hängen. Nicht zu lang, das könnte der Chef bemerken und Stefan will bei der Arbeit nichts vermischen. Und doch, bevor er sich umdreht um durch eine gleichsam lautlose Tür in den Gastraum zu gehen, muss er Annas Hände ansehen. Oft hat er ihnen dabei zugesehen wie sie auf ein Kommando Schubladen aufziehen, zurechtschneiden, Pfannen auf den Herd stellen, verschieben, in den Ofen stellen und dann muss Stefan immer an ein Uhrwerk denken, eine Maschine, die aus vielen kleinen Teilchen die große, exakte Zeit laufen lässt. Anna ist nicht groß und eigentlich auch zu zart für diese Arbeit, hat Stefan oft gedacht, ihre Hände sind so klein, dass sie aussehen, wie die eines Mädchens und nicht wie die einer erwachsenen Frau. Dann sieht er die Schnitte an ihren Fingern und die Blasen, die geschundenen Nägel, und er denkt an die Worte seiner Deutschlehrerin, die immer gesagt hat, dass das Wort leiden nicht ohne Grund ein Teil der Leidenschaft ist. Manchen Menschen gehen die Dinge so leicht von der Hand, und so grazil, denkt Stefan und beobachtet, wie Anna mit einer Pinzette zwischen Daumen und Zeigefinger und tief über einen Teller gebeugt einen kleinen Stift frittierte Auberginenschale zwischen Artischockendreiecke legt. Dabei fällt ihr eine Haarsträne ins Gesicht und Stefan muss sich zurückhalten sich nicht danach auszustrecken. Wenn er ihr bei der Arbeit zusieht, wird Stefan immer ein bisschen wehmütig, weil sie ihm nur mit ihren Händen und ohne überhaupt ein Wort an ihn zu richten, deutlich macht, dass er sich die meiste Zeit, die er auf der Arbeit verbringt, an andere Orte sehnt. Etwas anderes tun möchte, etwas, dass er mit dieser Leidenschaft tun kann, wie Annas Hände ihre Arbeit verrichten. Vielleicht brennen ja nicht alle Menschen für etwas, fürchtet er. Aber das möchte er nicht glauben. Vielleicht muss es nur nicht für jeden die Arbeit sein. „Stefan!“ Er sieht auf und in Annas Gesicht. Verwundert. Ob sie bemerkt hat, dass er sie so lange angesehen hat? Einer, der auf Hände starrt, was soll das denn für einen Eindruck machen? Er spürt die Wärme in seinen Wangen und streckt sich. Das sollte ihm nicht passieren. Bei der Arbeit immer professionell sein. „Tisch 5“, sagt sie und dreht sich zurück zum Herd. Er nickt, obwohl sie ihn schon nicht mehr sehen kann, nimmt sich zwei Servierten um die drei heißen Teller zu tragen. Und bevor er durch die lautlose Tür wieder verschwindet, sieht er noch zurück zu ihr, wie sie zwei Stücke vom Kabeljau in warmes, aromatisiertes Öl gleiten lässt und hätte er nicht nur auf ihre Hände geachtet, hätte er gesehen, dass auch Anna ihn ansieht.

Oktober 2012 – Spandau

„Na gut, ich komme mit“, sagt Julia etwas mürrisch und rollt sich von ihrem Bett und sieht sich im Spiegel an. Oh Mann, denkt sie, schneidet sich selbst eine Grimasse und beschließt bis heute Abend nicht darüber nachzudenken, dass sie zugestimmt hat, irgendwelche fremden Männer irgendwo hinter Spandau in irgendeinem Haus von Janahs neuem Internetflirt zu treffen.
Julia hat sich geschminkt, lange überlegt, was sie anziehen soll. Etwas, worin man sich wohl fühlt, was Bequemes, aber doch irgendwie schick. Es ist das Gleiche geworden wie immer, denkt sie und seufzt ein bisschen. Schwarz in schwarz. Leggins. „Ist ja nicht mein Date“, murmelt sie und stellt fest, dass sie ganz schön oft mit sich selbst redet. Draußen wird es langsam dunkel, obwohl es erst acht Uhr ist und traurig denkt Julia, dass der Sommer nun wirklich vorbei ist. Es hatte noch eine schöne sonnige Woche gegeben, aber jetzt riecht es schon nach Herbst und nassem Laub, wenn man das Fenster aufmacht und die Heizung hat sie heute auch schon angedreht. Sie sieht sich noch ein letztes Mal im Spiegel an und kontrolliert, ob sie den Herd ausgemacht hat und zieht die Tür hinter sich zu. Sie läuft zügig zur S-Bahn und ärgert sich, dass sie mindestens zweimal umsteigen muss. „Jwd“, denkt sie und verdreht die Augen. Sie tippt Janah eine SMS, dass sie sich verspäten wird und ist eine halbe Stunde später überrascht, dass es doch eigentlich nicht so lange gedauert hat. Als sie aussteigt, warten sie schon auf sie. Janah und sechs andere, die sie nicht kennt. „Na, dann mal los“, feuert sich Julia selbst an und drückt sich die Daumen, dass dieser Abend, wider Erwarten doch noch nett werden könnte.
Julia sitzt neben Marcel und beobachtet ihn von der Seite. Er ist ein kleines Stück größer als sie und hat dunkles, kurzes Haar und wenn er raucht, hält er manchmal die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen. „Der redet ja mehr als ich“, denkt Julia, nicht unbeeindruckt. Ab und zu lacht sie, manchmal mit Marcel, manchmal auch bisschen über ihn. Aber er gefällt ihr. Mit anderen redet sie eigentlich nicht wirklich. Aber ihm hört sie gerne zu. Er ist auf diese Art witzig, die auch gleichzeitig ein bisschen peinlich ist, aber das ist nicht schlimm, weil er auch viel über sich lacht. Sie weiß nicht, wann sie das letzte mal so viel mit einem anderen Menschen lachen musste. Echt lachen. Nicht aus Höflichkeit, sondern dieses Lachen, dass aus einem herausbricht und einen manchmal kurz erschreckt, wenn man es lange nicht mehr von sich gehört hat, weil es so laut ist.
Janah starrt Julia an, ihr durchdringender Blick und Julia weiß, was das heißt: Zeit zu gehen. Janahs Internetbekanntschaft gefällt ihr nicht, das war von Anfang an ziemlich klar. Sie bleiben noch eine halbe Anstandsstunde und dann verabschieden sie sich und machen sich auf den Weg zum Bus in Richtung Spandau. „Ich glaub, ich find den gut.“, sagt Julia. „Das war ja klar“, sagt Janah und Julia weiß nicht so genau, was sie ihr damit sagen möchte und ob sie jetzt sauer werden sollte. „Meiner war ja ein ziemlicher Reinfall.“, bedauert Janah. „Also sehen wir die nicht wieder?“, fragt Julia, trauriger darüber als sie selbst gedacht hätte. Sie steigen in den Bus, schweigen eine Weile, bis Janah sagt: „Ich frag einfach Karl nach der Nummer von Marcel, dann kannst du ihm schreiben.“ „Nein. Das kann ich doch nicht einfach machen.“, winkt Julia ab. Zehn Minuten später leuchtet Marcels Nummer auf Julias Handy. Dort leuchtet sie noch zwei weitere Tage. Julia beginnt jeden Tag eine Nachricht. Hallo. Ich wollte mich nur noch mal für den schönen Abend bedanken… oder Hi Marcel. Hier ist Julia. Ich dachte… Und was, wenn er sie gar nicht mochte. Was, wenn sie sich jetzt völlig blamiert? Könnte sie es verkraften, wenn er ihr antwortet, dass er sich geschmeichelt fühlt, aber kein Interesse hat? Oder schlimmer, dass er sich gar nicht meldet? Sie schickt keine Nachricht ab. Zu Hause denkt sie an Marcel. Er hat sich auf seinem Stuhl immer vorgebeugt und seine Ellenbogen auf die Beine gestützt, beim Reden. Im Bus denkt sie an Marcel, der manchmal ganz plötzlich laut gelacht hat. Sie mag Menschen, die laut lachen. Sie lächelt bei dem Gedanken und sieht aus dem Fenster. Bei der Arbeit denkt sie an Marcel, der erzählt hat, dass er ein Koch ist und fragt sich, was er für sie kochen würde. Julia sitzt hinter der Garderobe, vor hunderten von Jacken und Taschen und sieht die vielen Menschen auf der Messe aneinander vorbeilaufen. So viele, dass man kaum einen einzelnen ausmachen kann. Und dann denkt sie, dass sie lange in dieser großen Menge keinen mehr gefunden hat, an den sie so denken muss; „Scheiß drauf“, denkt sie und tippt: Hallo Marcel. Ich bin hier auf der ILA, ziemlich cool hier. Also wenn du Lust hast, dann komm doch vorbei. Julia Senden. Sie ist nervös. Hält ihr Handy in der Hand. Wartet auf die Vibration. Also so läuft das aber nicht. Ich glaube, dir muss mal jemand zeigen, wie man das richtig macht. Das ist seine Antwort? Hat er sie falsch abgeschickt? Was meint er damit? Sie will gerade ein Fragezeichen zurücksenden, da ist sie wieder, die nächste Vibration. Zum Beispiel so: Ich fand den Abend letztens wirklich schön und wollte dich fragen ob du Lust hast dich morgen mit mir zu treffen. Vielleicht ein Abendessen?

September 2014 – Luisenstraße

„Sie können gerne vorbei kommen und sich erkundigen, wie es Ihrem Mann geht. Aber vor zwölf lohnt sich das nicht. Ab zwölf dann.“, sagt die OP-Schwester mit der Tweety-OP-Mütze. Emma nickt und kann nicht aufhören, die Mütze mit den kleinen gelbgrinsenden Vögeln anzustarren. „Ah, Sie erwarten Nachwuchs“, sagt sie und mustert Emmas Bauch. „Ist schon seit vier Wochen da.“, sagt Emma und „Du machst mir Angst“, sagt David, weil Emma weint.

Krebs. Emma starrt auf den betonierten Fussboden vor der Rettungsstelle der Charité und fragt sich, an was man bei dem Wort als erstes denkt? An die Krankheit oder an das Schalentier? Sie stellt sich vor, sie stünde vor einer Kamera, mit einem großen Mikrophon in der Hand und vom Wind zerzausten Haaren, weil sie sich Reporter irgendwie immer bei stürmischem Wetter vorstellt. „Stichwort: Krebs. Woran denken Sie?“ Ich wette, alle denken an die Krankheit. Aber so wie wenn man eben an etwas Fernes denkt. Ja, schlimm, das mit der Frau Müller. In vier Wochen tot. Ja, wie schrecklich. Und Kinder? Drei?! Furchtbar. Emma schiebt das Wort in sich hin und her und wartet auf die Bilder. Taschenkrebse, die sie in große Töpfe mit kochendem Wasser gleiten lässt. Obwohl ich weiß, dass man von ihnen nur die Gliedmaßen isst, knacke ich den Kopf. Nur gallertartige Masse. In den Gliedmaßen faseriges Krebsfleisch, das sie mit Mayonaise vermengt. Das wären ihre Bilder gewesen, wenn sie sich selbst befragt hätte. Gestern. Aber heute ist es nicht windig. Und sie braucht sich heute nicht mehr fragen, woran sie denken würde. Metastasen, denkt sie und dann, dass Krebse nicht mal geradeaus laufen können. Stimmt das überhaupt? Emma nimmt sich vor, das nachzuprüfen.

„Ich will nicht sterben“, sagt er leise neben ihr. „Du stirbst nicht.“, sagt Emma und kommt sich wie ein Scharlatan vor. „Alles wird wieder gut.“, sagt sie ein paar Mal. Und dann sagt sie nichts mehr. Die Angst überlagert die Wünsche und dann überlagern die Wünsche die Angst. Es ist ein schlechter Film. Oder ein guter.

Emma schiebt den Kinderwagen vor sich her und läuft zur Cafeteria. Die Sonne scheint. Warum es nie regnet, wenn es passen würde, denkt Emma und schwitzt. Sie überlegt lange, was sie trinken möchte und bestellt dann das Gleiche wie immer, einen Cappuccino. Ich muss noch Windeln kaufen. Ob es einen Rossmann in der Nähe gibt? Da haben wir Gutscheine für geschenkt bekommen. Das wäre praktisch, das könnte ich noch schnell erledigen. Sie würde gerne nachschauen, aber David hat das Handy. Mit ihrem kann Emma telefonieren und mehr auch nicht. Es ist uralt. Emma wartet auf den Regen. Es ist viel zu schwül. Es regnet sicher heute noch, es muss einfach noch regnen. Es ist zehn nach zehn. Man könnte auch an das Sternzeichen denken, fällt ihr ein. Aber das ist auch eigentlich das Schalentier. Ob wir schon im Zeichen des Krebses sind? David hat das Handy, ich kann nicht nachgucken. Emma wischt sich über die Augen. Ohne David kann ich nichts nachschauen.

„Alles, was jetzt passiert, ist Schicksal. Dem musst du dich jetzt überantworten“, sagt Emmas Vater durch das Telefon und der Cappucino ist kalt. Sie nickt, weil sie nicht sprechen kann. Sie antwortet irgendetwas, an das sie sich schon als sie es sagt, nicht mehr erinnert und legt auf. Sie sieht ihr Display an und beschließt, David zu schreiben. Sie weiß, dass er es jetzt nicht lesen kann. Wenn er wieder aufgewacht ist, dann hat er eine Nachricht, aus einer Zeit, an die er sich nicht erinnern kann. Sie tippt: „Später wünsch ich mir ein kleines Häuschen auf einem größeren Stück Erde. Und einen großen Tisch, aus rauem Holz, für Besuch. Da sitzen wir im Sommer den ganzen Tag und jeder erzählt was. Abends werden die Gespräche leiser, legen sich über den Garten und schlüpfen in die Beete, verfangen sich in den Bäumen und bleiben als Blätter über unseren Köpfen hängen. Dann müssen wir ihnen nur noch lauschen. Das Holz wird die roten Weinspuren aufsaugen und speichert die Erinnerung für uns. Ich werde mit dem Finger darüberfahren und wissen, dass ich keine Angst haben brauche zu vergessen.“ Vielleicht können Krebse doch nach Vorne laufen, das wäre gut.

August 2002 – Rathaus Steglitz

Eduard hält sich selbst für einen ausgeglichenen Mann. Er läuft weder besonders schnell, noch besonders langsam. Er redet weder laut, noch leise. Beides hält er für eine anstrengende Angewohnheit. Lucy liebt Eduard. Wenn man sie fragen würde warum, dann könnte sie das gar nicht so genau sagen. Wahrscheinlich, weil er so komplett anders ist als sie. Lucy würde sich selbst als leidenschaftlich bezeichnen. Eduard findet, dass ist eine lahme Ausrede für ihre Stimmungsausbrüche. Aber das würde er ihr nie sagen, denn auch Eduard liebt Lucy. Was beide nicht wissen.

Eduard arbeitet als Verkäufer in einem Laden für Outdoor Bekleidung. Nicht, weil er besonders gerne reisen würde. Es hat sich eben so ergeben. Er mag seine Arbeit. Die funktionale Bekleidung und das zweckdienliche Zubehör für Reisen entsprechen seinem Sinn für das richtige Maß.
Jeden Samstag geht Eduard in den Kuchenladen. Nach der Arbeit trinkt er einen Espresso und isst ein Stück Limonentarte. Sonst isst er nichts Süßes. Nur dieses eine Stück Limonentarte.

Lucy liebt Kuchen, das hat sie schon immer. Wenn sie zurückdenkt, dann ist das erste Stück Kuchen, an das sie sich richtig erinnern kann, ein Stück Käsekuchen mit Kirschen und Streuseln obendrauf. Von diesem Stück Kuchen an wusste sie, dass Kuchen immer ihre große Leidenschaft sein würde. So erzählt sie das jedenfalls. Eigentlich hat Lucy davor viele Jobs gehabt und ist eher durch einen Zufall ans Backen geraten. Aber das spielt ja keine Rolle.

Der Laden, in dem Eduard arbeitet, ist umgezogen, und Eduard muss einen neuen Ort für Kaffe und Kuchen ausfindig machen. Das missfällt ihm grundsätzlich, denn er mag altbewährtes und außerdem ist ihm furchtbar heiß. Es ist viel zu warm in der Fließjacke. Atmungsaktiv sollte sie sein und ist sie nicht. Er fühlt sich unwohl und möchte nicht auf der großen Straße an einem Samstag zwischen all den Menschen schwitzen. Er biegt in eine kleine, schattige Seitenstraße ein und dort in das nächstbeste Café.

Als Eduard Lucy das erste Mal gesehen hat, denkt sich Eduard, dass diese Person viel zu laut redet. Und noch viel lauter lacht. Dabei sieht man, dass sie roten Lippenstift auf ihrem Schneidezahn hat. Er wartet in der Schlage bis er an der Reihe ist und kann doch seinen Blick nicht recht von Lucy abwenden. Er schiebt es auf ihre bunte Kleidung, die wuschigen Locken, ihren offenen Mund mit den großen Zähnen. Alles an ihr schreit förmlich danach, angestarrt zu werden. Aber ihre Limonentarte, das musste er zugeben, war die beste, die er in der Stadt überhaupt jemals gegessen hat. Und da er aus Erfahrung weiß, dass man im Leben eben nicht alles haben kann, beschließt er, trotz der enervierenden Bäckerin, fortan jeden Samstag nur ihre Tarte zu essen.

Lucy hat Eduard an diesem Tag nicht gesehen. Jedenfalls nicht so, dass sie sich irgendwie an ihn erinnern konnte. Er war kein Typ, an den man sich erinnert. Er wäre damit eigentlich der perfekte Kriminelle. Das hat sie ihm später auch gesagt und dabei gelacht und er hat sich gleichzeitig geschmeichelt und auch beleidigt gefühlt.

Eduard trinkt seinen Espresso schnell und isst seinen Kuchen langsam. So sieht auf der Zunge zergehen lassen aus, denkt Lucy immer, wenn sie Eduard dabei beobachtet. Es gefällt ihr, ihm zuzusehen. Wie er ihren Kuchen genießt. Als sie ihn einmal gefragt hat, warum er immer diese Tarte isst und nie eine andere probieren möchte, sieht er ihr in die Augen und antwortet, dass wenn man im Leben das Glück habe, etwas zu finden, was so wunderbar ist, dann muss man daran festhalten und Treue beweisen. Und so wie er sie dabei ansieht, wird ihr seltsam warm.
Seitdem wartet sie jeden Samstag auf Eduard. Sieht auf die Uhr und wenn er zu spät kommt, was glücklicher Weise selten passiert, macht sie sich Sorgen. Er könnte ein anderes Café bevorzugen – unwahrscheinlich. Er könnte einen Unfall gehabt haben – schrecklich. Er könnte in eine andere Stadt gezogen sein. Davon würde sie nie etwas erfahren. Und dann öffnet er die Tür, nickt ihr zu, lächelt und Lucy atmet erleichtert auf und zieht die Limonentarte aus der Vitrine.

Juli 2013 – Rosenthaler Platz

Er weigert sich, die Augen zu öffnen. Vielleicht, das hofft er zumindest, würde er dann wieder einschlafen. Zwecklos. Er hört die Tram fahren. Der Rosenthaler Platz war immer laut, aber früher hat ihn das nicht gestört. Noch mit geschlossenen Augen tastet er nach seinem Handy. Vorsichtig dreht er sich zu seinem Nachttisch um Anna neben sich nicht zu wecken. Er fährt mit seinem Finger über das Display, nun ein Auge offen und eines noch zugekniffen, in Erwartung des in der Dunkelheit grellen Lichts. Drei Uhr neunundvierzig. Die Zeit dazwischen. Eine Unzeit. Es ist zu früh um schon aufzustehen. Zu spät um noch wirklich wach zu sein. Es ist diese Zeit, die sich anfühlt wie Fernweh. Wie ein Kribbeln in den Beinen, obwohl man ganz still liegt.
„Lächerlich“, findet er. Er bereut nichts. Er hat ein schönes Leben. „Wo sind die Türen? Wo sind die verdammten Türen hin?“, fragt er sich. Er fährt wieder über den Display seines Handy. Checkt die Mails. Und seinen Kalender, der ihm genau verrät, wie der morgige Tag aussehen wird. Früher hatte er öfter das Gefühl, das Leben hätte viele Türen. Jetzt ist das anders. Seine Tage sind im Voraus geplant und er weicht von diesen Plänen nicht ab. „Pflichtbewusst und zuverlässig“, denkt er sich. Oder: „Feige, langweilig“. Er hat viele Menschen kennengelernt und Länder. Und oft, wenn er nach Hause zurückgekehrt ist, hatte er das Gefühl, dass er eine Tür, eine Möglichkeit auf ein ganz anderes Leben, geschlossen hat. Er ist nicht Deutschlehrer in Mexico City geworden um bei seiner braunhaarigen Romanze bleiben zu können „Maria? Malena!“ und auch nicht Koch in Thailand. Zu Hause hat er noch lange über diese Türen nachgedacht. Sie waren da, sie waren offen, er konnte einen Blick hineinwerfen, hätte hindurchgehen können, aber er hat sie geschlossen. Darüber ist er nicht traurig, es waren die richtigen Entscheidungen. Er wäre ein furchtbarer Lehrer und er liebt seinen Beruf. Er ist gerne Fotograf und er ist gut darin. „Die Türen.“, denkt er und denkt eigentlich nur an die eine, wichtige Tür.
Er setzt sich auf. Die Füsse nackt und angenehm kühl auf den Dielen. Er steht auf und geht hinüber zu seinem Schreibtisch. In der linken, oberen Schublade liegt das Foto. Er muss nicht einmal das Licht anmachen, um es zu finden. Er hat es schon oft angesehen. Immer in den Stunden dazwischen. Er würde sich gerne wieder auf das Bett setzen, aber dort liegt Anna. Er geht in die Küche und macht das Licht an. „Diese roten Haare.“ Es war sein erstes Fotoshooting, das erste wirklich große, mit viel Geld und sein Durchbruch sozusagen. Gar nicht so weit weg von hier. Die erste wichtige Referenz. „Zwanzig Jahre. So lang her. Scheiße, ja. Benz. Mercedes. Models. Aber sie nicht.“ Sie war dort. Vielleicht war sie von der Maske, nicht mal das hatte er in Erfahrung gebracht. Aber er musste sie einfach fotografieren. Niemand hatte es bemerkt. Wie zufällig sollte sie auf dem Bild sein. „Aber sie schon, sie hat es bemerkt. Dieser Blick“. Sie sieht ihn immer noch an, durch die lange Zeit hindurch und immer in der Zeit dazwischen, sieht sie ihm direkt in die Augen. „In die Kamera, sie schaut in die Kamera. Nicht mich an, nicht mich.“ Er hätte fragen können, wie sie heißt. Er hätte sie fragen können oder jeden anderen am Set. Fragen, was sie tut. Oder woher sie kommt. „Kaffe, nach Kaffetrinken hätte ich fragen können.“, denkt er und schraubt den Espressokocher auf. Aber er hat nichts gefragt. „Ob sie eine Familie hat?“, fragt er sich jetzt. „Zwei Kinder vielleicht, zwei Mädchen. Sie ist eine Mutter von Mädchen“, denkt er und sieht sie an. „Lebst du noch in der Stadt?“, fragt er ihr Bild und drückt den Espresso in das Sieb. „Würde ich dich erkennen, wenn du an mir vorbeigehst? Würdest du mich erkennen?“ Er schraubt den Kocher zusammen und stellt ihn auf die Platte. Diese eine Frau. „Perfekt.“, denkt er und dass er vielleicht deshalb nichts gefragt hat, nichts gesagt, damit sie die Eine bleiben kann, die Tür, nach der es keine Türen mehr gab. „Lächerlich“, denkt er und schaltet den Herd ein. Sieht auf die Uhr in der Küche, bringt das Foto zurück an seinen Platz. Vier Uhr zweiunddreißig. „Zeit aufzustehen.“

Juni 1949 – Nollendorfplatz

Die Oma von Julian habe ich noch nie persönlich gesehen. Vielleicht vor Jahren, unbewusst, bei einem der Musikabende unserer Schule. Sie könnte zwei Reihen vor mir gesessen haben, Julian lauschend, der das Saxophon in der Big Band spielte. Kennengelernt habe ich sie nicht. Aber ihre Geschichte, ohne die es Julian gar nicht geben würde, die kannte ich. Ein bisschen zumindest. Und dieses kleine Bisschen hat mich neugierig gemacht. Ich musste sie von ihr selbst hören. Also habe ich sie angerufen:

„Julian hat mir schon gesagt, dass Sie sich melden würden. Ich werde mal erzählen, wie das damals war, mit dem Ulrich und mir. Damals war ja alles noch ganz anders. Da hat man sich ja noch gesiezt, wenn man sich kennengelernt hat. Aber ich will mich kurz fassen:
Wir haben uns das erste mal gesehen, im Juni 1949, in der „Grotte Azurra“, das war ein Tanzlokal am Zoo. Ulrich hat mich zum Tanz aufgefordert, und zu vier Tänzen danach. Wissen Sie, Ulrich war ein toller Tänzer. Das ist er jetzt noch. Wir würden gerne noch viel mehr tanzen, aber er ist ja auch schon einundneunzig Jahre alt und ich bin sechsundachtzig, da geht das nicht mehr so wie früher.“
Und sie lacht. Ich lache mit, aber ein bisschen traurig finde ich es auch. Aber es ist vielleicht auch eher eine Art Wehmut, weil es gleichzeitig schön ist.
„Dann jedenfalls kam die Damenwahl. Wissen Sie denn heute noch, was das ist?“ Ich verneine. „Normalerweise war es ja so, dass der Mann die Dame um einen Tanz gebeten hat, aber bei der Damenwahl, da mussten eben die Frauen um den Tanz bitten. Das habe ich nie gemacht. Mochte ich nicht. Aber an dem Abend, weil wir ja schon den ganzen Abend getanzt hatten und er ja auch so gut tanzte, da konnte ich doch nicht anders und habe ihn aufgefordert. Später hat er mir erzählt, dass wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wär’s das mit uns gewesen. Ja, der Ulrich hat auch seinen Stolz.“
Jetzt bin ich es, die lacht. Und sie lacht mit.
„Später am Abend hat er mich dann nach Hause gebracht. Nicht bis vor die Tür, das machte man nicht. Aber bis zur Ecke. Und wir haben uns verabredet. Für die nächste Woche, am Donnerstag, um 20.00 Uhr, am Nollendorfplatz. Gut, um den Rest zu erzählen, muss ich jetzt doch ein wenig weiter ausholen: Ich habe damals meine Mutter gepflegt, sie war halbseitig gelähmt und mein Bruder war zu Besuch, um uns beim Renovieren zu helfen. Der war magenkrank und hatte einen Magendurchbruch. Genau auf den Donnerstag, in der nächsten Woche. Ich musste ins Krankenhaus laufen, um Hilfe zu holen. Und bis die dann kamen und bis wir dann im Krankenhaus waren und wieder zurück, war ich viel zu spät für meine Verabredung mit Ulrich. Und ich konnte ja nicht anrufen. Telefon hatten wir nicht, Handys sowieso nicht. Meine Familie hat gesagt, dass ich jetzt auch gar nicht mehr hinmüsse, der sei so oder so weg. Er kannte mich ja auch kaum. Aber ich bin trotzdem gefahren. Ich musste einfach. Und als ich aus dem Bahnhof kam, wer saß da und hat auf mich gewartet? Ulrich. Drei Stunden hat er gewartet. Und was ich damals nicht wusste, er war den ganzen Weg zum Nollendorfplatz zu Fuss gegangen, weil er kein Geld hatte für die Bahn. Vom Schlesischen Tor bis zum Nollendorfplatz. Jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben. Aber das hat er mir erst viel später erzählt. Damals, als er auf mich gewartet hat, hat er nur gesagt, dass er einfach wusste, dass ich noch kommen würde. Obwohl er so was noch nie für eine Frau gemacht hat, so lange gewartet. Er wusste, dass ich nicht so eine bin, die einfach nicht kommt. Wenn er noch lange hätte warten müssen, wäre er zur Polizei gegangen, hat der Ulrich gesagt, weil irgendetwas Schlimmes passiert sein müsste.
Damals wussten wir das noch nicht, aber wir sollten den Rest unseres Lebens miteinander verbringen. Wir sind jetzt seit zweiundsechzig Jahren verheiratet. Und gerade jetzt, wo wir so alt sind, versichern wir uns jeden Tag, dass wir uns lieben. Und wenn wir uns etwas wünschen könnten, dann würden wir am Liebsten gemeinsam Hand in Hand sterben.“

Ich verabschiede mich, bemerke, dass das Handy am Ohr schon ganz schwitzig ist und nehme mir fest vor, die Oma von Julian endlich mal persönlich kennenzulernen. Weil sie eine von den lebenden Geschichten ist.

Mai 2000 – Mehringdamm

Oft, wenn sie an einem großen Bahnhof steht, dann fragt sie sich, wie es wohl wäre, wenn man den Blick von Oben hätte. Jeder Mensch wäre ein farbiges Pünktchen mit einer Uhrzeit auf einer Karte, die nur den Bahnhof zeigt. Würde man sich dann am Abend diese Karte ansehen, wie viele Menschen würde man kennen, die kurz vor einem, kurz danach oder sogar zur gleichen Zeit genau dort sind, wo man selbst ist. Manchmal findet sie den Gedanken, so viele Menschen zu verpassen, an ihnen unbemerkt und nur Minuten entfernt vorbeizueilen, traurig und an anderen Tagen kommt er ihr vor wie ein Segen.

Sie fährt nun schon seit vier Jahren immer diese Strecke und wenn sie ehrlich ist, dann auch immer zur gleichen Zeit. Sie muss um 09.00 Uhr im Büro sein und man pendelt sich dann eben auch ein. Das tun doch alle, denkt sie. Eigentlich sieht sie auch jeden Morgen die gleichen Menschen. Nicht, dass sie die wirklich kennen würde. Die Stadt ist dann ja doch zu groß um sich so kennenzulernen. Als sie hergezogen ist, hat sie noch jedem Hallo gesagt und wurde dafür so angesehen, als würde sie den Leuten einen Staubsauger andrehen wollen oder sie überfallen oder so als wäre sie potentiell geistesgestört. Also hat sie sich das Grüßen schnell wieder abgewöhnt. Und wenn man sich das einmal abgewöhnt hat, dann verfliegt auch das Bedürfnis danach. Manchmal nickt sie noch, aber auch nur wenn sie die Leute von morgens aus der Bahn zufällig mal an einem anderen Ort trifft, beim Einkaufen oder im Cafe. Dann ist Nicken das richtige Mittel, freundlich zu sein, aber eben nicht zu aufdringlich.

Seit ungefähr zwei Wochen ist jemand Neues unter den 08.33 Uhr Bahnfahrern. Zumindest hat sie ihn da zum ersten Mal wirklich bemerkt. Und als er eigentlich schon an ihr vorbei war, ist wie ein nachträglicher Gruß, der Luftzug mit seinem Geruch an ihr vorübergezogen.

Es war Parfum, das schon, aber nicht zu viel. Nicht dieses schwere Moschusartige, das sie an Männern gar nicht mag. Es roch irgendwie frisch, so wie gerade geduscht und trotzdem ein bisschen herb, männlich eben. Gut. Sie musste ihn sich einfach ansehen. Jemand, der so riecht, der will auch gesehen werden. Leider erstmal nur von Hinten. Alles ganz passabel. Nicht besonders auffällig gekleidet, aber das verbucht sie in Berlin immer als angenehme Überraschung, das mal jemand auch einfach eine schwarze Jeans anhaben kann. Und eine Lederjacke. Dunkles Haar. Gut. Die Bahn fährt ein, er steigt ein und sie sieht ihn nicht mehr. Ein bisschen Schade denkt sie, aber mehr dann auch nicht. Sie sieht ihn sonst nicht, er ist einer von diesen einmal Bahnfahrern, die aus irgendwelchen Zufällen den eigenen Weg kreuzen, ein neuer farbiger Punkt auf ihrer Ubahnkarte. Aber am nächsten Morgen, ist er wieder da, dieser Geruch, der an ihr vorüberzieht. Und den Morgen danach wartet sie schon auf ihn, damit sie diesmal auch sein Gesicht sehen kann, ihn sehen, bevor sie ihn mit der Nase wahrnimmt. Er kommt auf sie zugelaufen. Sie vergisst, dass man eigentlich nach einer gewissen Zeit, den Blick abwendet, dass man jemanden nicht so ansieht, so früh am Morgen. Aber wie er läuft.

In diesen letzten zwei Wochen ist eigentlich kaum etwas passiert, sie lächelt, er lächelt, sie macht sich die Haare ordentlicher und hat sich einen neuen Concealer gekauft. Gegen die Augenringe. Sie findet es ärgerlich, ihn immer nur morgens zu sehen, das ist nicht ihre Zeit. Und wie soll man sich kennenlernen um halb Neun am Morgen? „Guten Morgen“, sagt eine Stimme neben ihr und sie dreht sich halb. Da steht er. Direkt vor ihr. So also lernt man sich am Morgen kennen, mit einem „Guten Morgen“ eben. Sie lächelt.